Wieder sitze ich in der Straßenbahn. Bin auf dem Weg zu einem Treffen. Auf dem Sitz hinter mir sitzt eine Frau, Jahre älter als ich, die gut hörbar und offensichtlich mit einer Freundin oder einer guten Kollegin telefoniert. Vor ein paaren Jahren noch hätte ich mir sehnsüchtigst gewünscht, mehr von dem verstehen zu können, was so um mich herum gesprochen wird. Nun kann man teilweise sogar verstehen, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Ich vermute, dass diese Dame am Sozialamt oder irgendeiner Beratungsstelle arbeitet, denn die beiden Gesprächspartner tauschen sich vermutlich Geschichten mit ihren Klienten aus. Dann beginnt die Frau hinter mir eine neue Story von “noch so einer”, die neulich bei ihr reingeschneit kam. Eine junge Frau, so Anfang zwanzig, ein Sack voller Probleme. Sie kam, wie die Frau erklärte, “naja, du weißt schon, aus so einer Missionarsfamilie. Zwölf Kinder, ständig im Ausland, zuletzt in England”, sie konnte gar keine Persönlichkeit entwickeln, ist zweimal schwanger geworden, hat zweimal abgetrieben. Die anderen Details schenke ich mir hier. Jetzt saß die junge Frau aus so einer Missionarsfamilie eben also da. Als Häuflein Elend, das endlich Hilfe brauchte.
Meine Haltestelle nähert sich, es sind noch zehn Minuten bis zu meinem Treffen, und in den Ohren klingt mir immer noch “naja, du weißt schon, aus so einer Missionarsfamilie.” Was will man da schon erwarten? Ständig habe ich diese verkorksten Fälle aus frommen Kreisen, sozial inkompetent, unfähig, mit Sex umzugehen, aus komischen Verhältnissen kommend und die dann auch noch meinen, die Welt missionieren zu müssen. Was will man da schon erwarten? Das sind Leute, durch die Kirche verdreht, die wir dann wieder geradebiegen dürfen.
Was wird ein solch beratender Mensch wohl empfinden, wenn er oder sie privat auf einen Missionar trifft? Die hiesigen Sozialbehörden sind übrigens extrem missionskritisch. Diese Haltung scheint mir stark auf dem Vormarsch zu sein: Mission? Nein, danke.