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Zum ersten Teil der Serie geht’s hier. 

Brückenpfeiler Nr. 2: Gegründet im gesellschaftlichen Leben

Wohl jeder hat schon mal Leute getroffen, die in der Tat sehr tief in der Bibel verwurzelt sind, deren Füße aber leider nicht mehr auf dem Teppich blieben. Sie sind weder von dieser Welt noch in dieser Welt. Wie Außerirdische sprechen sie eine unverständliche Sprache und ihr Verhalten ist ebenso weltfremd. Solche Menschen können phantastische Denker sein und uns helfen, tiefer in die vielen versteckten Geheimnisse der Heiligen Schrift vorzudringen. Als Gemeindegründer sind sie jedoch nur begrenzt von Nutzen. Sie sind wie Pond d’Avignon, jene berühmte mittelalterliche Brücke im Süden Frankreichs, die es nur bis zur Mitte des Flusses geschafft hat. Sur le pond d’Avignon ist’s romantisch schön – doch die Brücke ist nutzlos. Wir denken zum Beispiel an den Klerus in kunstvollen Gewändern oder in höheren Sphären schwebende Theologen, deren Sprache Kanaans uns rästelhaft bleibt. Doch bevor du nun zustimmend über solche Leute den Kopf schüttelst, nimm zuvor noch die demütigende Wahrheit zur Kenntnis, dass leider sehr viele Christen große Probleme damit haben, sich selbst in die Welt der Ungläubigen einzuflechten. Wir sprechen also nicht nur von Bischöfen und schwere Bücher wälzenden Theologen. Es geht um jeden, dem es schwerfällt, die fromme Blase zu verlassen und sich der Welt da draußen auszusetzen. Wie Pond d’Avignon mögen wir der anderen Seite um einiges näher kommen, wir sehen, was da vor sich geht, wir sprechen darüber. Wir beten sogar für jene, die wir sehen und jenes, was passiert. Und dann? Dann wenden wir uns um und gehen zurück ans eigene sichere Ufer. Die echte Interaktion mit der anderen Seit bleibt aus – da ist kein “sich selbst ‘entäußern'”, kein Verzicht wie Christus es getan hat, als er sich auf unsere Stufe stellte (Phil 2,7-8). Entsprechend gibt es auch in der Theologie keine echte Interaktion mit der anderen Seite. So wichtig unsere Theolgie ist, vieles erscheint weltfremd und irrelevant.

Neulich sprach ich mit einer völlig kirchenfremden Frau, die sich in eine fromme Blase “verirrt” hatte. Ihr positives Resumee: “Scheiße, so viele verdammt geile Leute hier!” Das war ein tiefes Lob – doch das fromme Milieu erschien ihr dennoch wie ein anderer Planet, der unerreichbar weit weg vom eigenen Alltag war. Diese “verdammt geilen Leute” waren einfach zu gut, zu heilig, ihr Glaube zu theoretisch, ihr Lebensstil utopisch.

Wir aber wollen Christus reflektieren, der seinen Thron im heiligen Palast des Himmels verlassen hat und frewillig auf die kriegsbesetze Erde zog. In gleicher Manier müssen wir hinaus aus unseren frommen Enklaven und hinein in die Welt. Um eine echte Brücke zu bauen, müssen wir auf der anderen Seite verankert sein. In die Welt eintauchen, sich mit ihrer Kultur, Denk- und Lebensweise beschäftigen. Das ist keine Wahl. Es ist Vorschrift. Wir sind dazu verpflichtet, unsere himmlischen Bequemlichkeitsbereiche zu verlassen und einer von denen zu werden (Phil 2,8) oder, wie Paulus es ausdrückt, den Juden ein Jude, den Ausländern ein Ausländer, den Postmodernen ein Postmoderner zu werden. Wir müssen uns mit ihnen anfreunden – und sie sich mit uns, damit wir uns gegenseitig verstehen lernen und durchschauen können, wie man jenseits des eigenen Ufers lebt, fühlt, fürchtet, träumt. Alles, was diesem Maßstab nicht entspricht, bricht das Gebot “liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.

Durch die jahrelangen Beziehungen in einem sowohl ausländerreichen als auch postmodernen Stadtteil wurde uns der Bedarf an ständiger theologischer Reflektion bewusst. Dieses Thema ruft sicher keine feurige Begeisterung hervor. Worte wie “Exegese” oder “Hermeneutik” fühlen sich leicht deplatziert an, oder? Sie gehören in die Bibelschulen. Nun, das ist genau das Problem. Theologische Seminare helfen uns vor allem, den Brückenpfeiler am Bibelufer zu bauen, doch wir wollen auch auf der anderen Seite einen Pfeiler errichten! Denn nur so lernen wir, wie man die Bibel in einer nichtchristlichen Welt zu gebrauchen und verstehen hat. Solange wir nur rufend vom Pond d’Avignon predigen, wird uns wohl kaum jemand aufmerksam zuhören.

Nehmen wir zum Beispiel meinen Freund Björn. Björn lebt ein melancholisches Dasein und versucht mit seinem Leben voller Schwierigkeiten und Enttäuschungen fertigzuwerden. Das bisschen Erfahrung mit Kirche war so kläglich, das er damit fortan nichts mehr zu tun haben wollte. Ich traf ihn, als unser Gründungsprojekt gerade erst begonnen hatte, und er fand mein Reden über “neue Gemeindeformen” merkwürdig und eigenartig. Seiner Meinung nach konnten “neue Gemeinden” nicht besser sein als alte. Deshalb lud ich ihn zu einer mir bekannten Gemeinde ein, die meiner Meinung nach wirklich interessante und zeitgemäße Gottesdienste anbietet. Ich pflegte die Hoffnung, dass eine solche Erfahrung etwas mehr Interesse in ihm auslösen könnte. Obwohl er so freundlich war, meiner Einladung zu folgen, ist er doch nie wieder gekommen. Erst war ich ziemlich verdutzt, doch später sah ich ein, was falsch gelaufen war. Ich hatte mir nie die Zeit genommen zu verstehen, was wirklich wichtig war für Björn. Stattdessen hatte ich einen Fisch eingeladen, die Aussicht vom Berg zu genießen.

Linda ist ein weiteres Beispiel. Karen und ich haben immer wieder mit ihr gesprochen, seit wir nach Göteborg gezogen sind. Wir kennen ihre Hobbies und Herausforderungen. Sie ist eine nette, sehr freundliche junge Frau, doch irgendwas war immer anders mit ihr. Als wir herausfanden, dass Linda transsexuell ist, wäre es einfach gewesen, sich von ihr zu distanzieren – was für Christen ein recht typisches Verhalten ist, wenn sie Menschen mit einem ganz anderen sexuellen Lebensstil treffen. Stattdessen fragten wir uns folgende Fragen: Was ist eine biblisch relevante und vor allem gute Botschaft für Linda? Welche biblische Hoffnung würde Björn aufbauen? Und wie können wir sie so kommunizieren, dass Linda, Björn und viele andere es hören und verstehen?

Ich weiß sehr wohl, wie sich die Hilf-, Fassungs- und Machtlosigkeit anfühlt, wenn man “da draußen” ist und der Welt begegnet, wie sie ist; wenn einem die Worte fehlen ob des Leids, Zerbruchs, der Probleme und Hoffnungslosigkeit, der Konflikte und Krankheiten. Ein Teil des Lebens der Anderen zu werden und hinter die Fassaden zu schauen kann einen manchmal überfordern. Auf der anderen Seite des Flusses wirkt so manches typische Gemeindethema belanglos. Es interessiert niemanden. Wie toll fändest du einen Verkäufer, der dir eine Pferdekutsche verkaufen will und einfach keine Ruhe lässt? Wenn du nicht gerade Amish oder reich und pferdeinteressiert bist wirst du fauchen: “Lass mich un Ruhe! Es ist mir egal, was du denkst, aber ich brauche das Zeug nicht!” So ähnlich fühlen sich viele, wenn wir sie “evangelisieren”. Was hätte Jesus gesagt? Ich bin mir sicher, er hätte immer etwas zu sagen gehabt – doch ich bin mir nicht immer sicher, was seine Worte gewesen wären.

Vom H2O-Gründungsteam wird erwartet, dass jeder sowohl in der Bibel als auch in der Welt verankert ist, und dass diese beiden Pole durch fortlaufende theologische Reflektion verarbeitet werden. Dies ist nicht die Aufgabe des Leiters oder Pastors. Es ist die Aufgabe der Gemeinschaft, indem jeder einzelne seine oder ihre Beobachtungen und Reflektionen im Heiligen Geist beiträgt.

Sollten wir feststellen, dass ein bestimmtes Thema immer wieder auftaucht, nehmen wir uns viel Zeit, um es zu bearbeiten und dafür zu beten. In einigen Fällen ziehen wir uns einen Tag oder ein ganzes Wochenende zurück, um nur dieses Thema ausführlich und aus mehreren Winkeln zu behandeln. Wir stellen uns Fragen wie: Wo überall finden wir diese Thematik in der Bibel? Was gibt es in der Kirchengeschichte zu diesem Thema? Was lernen wir daraus? Wie werden oder sollten wir in unserer speziellen Situation darauf reagieren? Denn was immer wir auch tun und sagen werden, es soll eine prophetische Botschaft in unsere Kultur sein. Dann und nur dann wird unsere Botschaft wahrgenommen werden – und angenommen oder abgelehnt.

Ein Beispiel für ein solch relevantes Thema, das durchaus mehrere Theologiefreizeiten erfordert, kommt aus dem schwedischen Film Wie im Himmel, der ein Jahr vor unserem Umzug erfolgreich durch die Kinos ging. Der Film handelt von einem lebendigen Kirchenchor, der immer mehr zur Konkurrenz des eher langweiligen Pfarrers wird. Während eines wichtigen Dialoges zwischen dem konservativen Pfarrer und seiner progressiven Frau enthüllt der Film seine Hauptaussage: Es gibt keine Sünde. Sünde ist nur eine Erfindung der Kirche. Der Film war unter anderem so erfolgreich in Schweden, weil er eine Grundüberzeugung vieler moderner Skandinavier vermittelt: Es gibt keine Sünde. Aus eigener Erfahrung können wir bestätigen: ja, das glauben viele Nordeuropäer wirklich.

Wenn “Sündlosigkeit” eine kulturelle Voraussetzung ist, wird unser ganzes Reden von Vergebung und dem Kreuz ziemlich überflüssig, nicht wahr? Wenn keine Sünde existiert, braucht es auch keine Vergebung. Wenn es keine Vergebung braucht, tja, was bleibt dann vom Evangelium übrig?! Was sollen wir tun? Sollten wir weiterpredigen “Doch, doch, Sünde gibt es! Und du brauchst Vergebung!”? Vermutlich würde man uns erleben wie den Kutschenverkäufer.

Als gute Brückenbauer sollten uns unsere theologischen Reflektionen lieber die Frage stellen lassen: Wenn nicht Sünde, welche existenziellen Probleme sind dann wichtig für die Menschen hier? Wenn nicht Vergebung, was würde dann als biblische gute Nachricht empfunden werden? Was sind den relevante Lebensfragen? Doch der Prozess, solche Fragen zu bearbeiten, erfordert sehr, sehr viel Zeit.

Bei unseren Beobachtungen und im Umgang mit vielen, vielen Menschen sammelten wir zahllose Puzzlesteinchen und versuchten, sie zusammenzufügen. Wir entdeckten, dass sich viele Menschen einsam und ausgeschlossen fühlen, weil sie nicht den allgemeinden Erwartungen entsprechen. Man empfindet sich als nicht so erfolgreich, schön, reich, sportlich, lustig oder stark wie man man meint, dass man sein sollte. Einsamkeit ist oft in Scham gegründet.

Also stellten wir uns die Frage, ob unsere Hauptbotschaft statt “Sünde und Vergebung” lieber “Scham und Annahme” sein sollte. Die Bibel spricht viel über Scham. Sämtliche biblischen Geschichten spielten in Schamkulturen. Nicht zuletzt erfüllt niemand von uns Gottes Erwartungen, und wir werden deswegen eine Ewigkeit von der Gemeinschaft mit ihm ausgeschlossen werden- es sei denn, wir werden in Christus angenommen und in Gottes Augen als perfekt erachtet.

Doch wie können wir lernen, dieses Evangelium zu kommunizieren? Wie kann aus der berühmten “Brückenzeichnung” eine “Annahmezeichnung” werden?

Sünde-Vergebung oder Scham-Annahme ist nur ein Beispiel, wie wir in der H2O-Gemeinschaft versuchen, relevante Fragen zu finden und theologisch durchzukauen. Wir möchten ein Repertoire aus Themen aufbauen, über die sowohl die Welt als auch die Bibel spricht.

Es ist nur so, dass man damit nie fertig wird. Der Brückenpfeiler ist erst dann stabil errichtet, wenn man mehr Themen findet als Zeit, sie zu bearbeiten.



Fortsetzung folgt

© Marcus Fritsch. Aus Steigerwald, Daniel und Crull, Kelly (Hg.). Grow where you’re planted. Collected Stories of the Hallmarks of the Maturing Church. Portland: Christian Associates Press, 2013.

Author

marcusis@icloud.com

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