Sola scriptura, sola fide, sola gratia – so brachte Dr. Luther es uns vor nunmehr 500 Jahren bei: allein die Schrift, allein durch Glaube, allein durch Gnade. Die Lehren Luthers sind ein unübersehbarer Berg in der Landschaft der Theologie und Geschichte. Gewiss, zu manchen Zeiten hat man sich in manchen Teilen Europas alternative Berge gebaut, zum Beispiel zur französischen Revolution, weshalb Inspektor Javert, ein wahrer Vertreter der französischen Regierung des frühen 19. Jahrhunderts, nur wenig von sola gratia versteht:
Honest work, just reward
that’s the way to please the Lord
– ehrliche Arbeit, ehrlicher Lohn, nur so gefällt man dem Herrn.
Doch wieviel verstanden wir Gnadenexperten wirklich von der Gnade?
Wie oft betrachteten wir den Reformationsberg nur aus der Ferne während wir selbst auf ganz anderen Hügeln wanderten?
Solche Fragen musste ich mir immer wieder stellen. Und landete im schmerzhaften Gefühl, dass so mancher Christ Javert ähnlicher ist als unserem Herrn Jesus. Denn genau wie der Inspektor, so schien es mir, halten viele Christen sich für gerecht, und sehen deshalb die Welt nur sehr oberflächlich aus einer leicht überheblichen, dominierenden Position, ebenso, wie man auf dem Foto des YouTube-Clips oben auch nur den Busen einer Prostituierten sieht und sich sofort ihren ganzen unmoralischen Lebenswandel denken kann, doch man sieht nicht, warum die Dame sich für Geld anbietet, kennt weder ihre Geschichte noch ihre Familie, noch nicht einmal, und das mag das schlimmste sein, ihren Namen, Fantine.
Es kam mir vor, dass es in vielen Gemeinden eigentlich gar nicht um Gnade geht, sondern um die eigene Gemeindekultur, in die freilich viel Reformationstheologie eingebettet ist, doch die eigene Gnadenwilligkeit maß sich schon immer an der Bereitschaft zur Aufnahme der neuen Anderen.
All dies sah ich nicht als Vorwurf. Sondern als Diskrepanz, die mich im Laufe vieler Jahre unterbewusst viel Kraft gekostet hatte.
Die resultierende Müdigkeit füllte nun mein Moleskine.