Vor ungefähr einem halben Jahrhundert war es so populär, das Ende der Welt herbeizupredigen, dass eine ganz neue Gattung Redner entstand: Der Endzeitprophet, eine Nische der Gattung Evangelist, der mit eloquenter Rhetorik versucht, Menschen zur Umkehr zu Jesus zu bewegen. Endzeitpropheten waren Spezialisten für biblische Bücher wie Daniel oder die Offenbarung, deren schwere Bildersprache sie in ihrer durcheinander gebrachten Welt wiedererkannten und deshalb mit einem nahen Ende rechneten. Ein guter Prophet will, dass alle vorbereitet sind.
Doch die Zeit verging, das nächste Jahrtausend brach an, die Welt drehte sich immer weiter, und Jesus ist bis jetzt nicht wiedergekommen. Es wurde stiller um die Endzeitprophetie. Das mag jene freuen, die sich immer noch lebhaft an das Phänomen donnernder Feuer-und-Schwefel-Predigten erinnern. Auch wenn der Endzeitprophet heute nur noch in Witzen vorkommt (oder manchmal sogar als Schimpfwort für Klimaaktivisten Verwendung findet), so war deren Entstehen im Jahrhundert der größten Veränderungen überaus nachvollziehbar: Zwei Weltkriege. Fortschritt und wissenschaftliche Revolutionen in allen Fakultäten. Enorme Umformungen in den westlichen (und damit den klassisch “christlichen”) Kulturen. Da musste es so manchem Prediger einfach schwindelig werden.
Gegen Ende des zweiten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend funktionieren Endzeitpredigt und Zeltevangelisation nicht mehr, auch deshalb, weil die öffentliche Predigt voraussetzt, dass die Hörer eine gewisse christliche Grundausbildung haben und damit Verständnis und Interesse aufbringen. Doch diese Zeiten sind vorbei. TED-Talks, Netflix, Yogakurse – das alles ist da viel erfolgreicher. Gott als Richter – nein danke, das war gestern. Wer heute evangelisieren will, muss eine völlig andere Sprache finden, um Interesse für Gott zu wecken.
Die Ablehnung eines “Jüngsten Gerichts” geht interessanterweise Hand in Hand mit einem anderen Trend unserer Zeit, der mit Religion gar nichts zu tun hat: Der moderne Mensch des Westens verliert seine Fähigkeit, Risiken richtig einzuschätzen, das heißt echte von eingebildeten Gefahren zu unterscheiden, zwischen zuverlässigen und scheinbaren Sicherheiten differenzieren zu können. Verglichen mit vergangenen Jahrhunderten leben wir ein extrem sicheres Leben; die Gefahr, durch Selbstmord ums Leben zu kommen ist größer als in einem militärischen Konflikt getötet zu werden. Wir verlernen immer mehr, mit Gefahren richtig umzugehen. Man fühlt sich mit dem Navi sicher, bis man im Fluss gelandet ist. Unser vollgefederter Alltag lullt uns ein, malt aber gleichzeitig Teufel an die Wand, wo gar keine sind – z.B. fühlen sich immer mehr “bedroht” im Lande, haben Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, obwohl sich die Kriminalitätsstatistiken enorm verbessert haben und immer noch besser werden. Das ist übrigens auch ein Ergebnis der Studie “The Psychology of Climate Change” (Die Psychologie der Klimaveränderung): Trotz überwältigender Daten und Fakten ändert der Mensch sein Verhalten kaum, weil die Bedrohungen nicht wirklich als bedrohlich für das eigene Leben empfunden werden. Erst, wenn es uns an die Kehle geht, mag unser letzter Gedanke sein, dass das Kätzchen vielleicht ein Löwe war – und wir viel zu leichtsinnig.
Könnte das ein Symptom für “die Endzeit” sein? Immerhin ist in der Offenbarung mehrfach erwähnt, dass die Menschen trotz allem, was ihnen dort so widerfährt, ihre Einstellung partout nicht ändern wollen (z.B. Offb 9,20). Oder riecht das gleich nach Endzeitprophetie à la 70-er und wir dürfen eigentlich ganz beruhigt unser Business as usual weitermachen?
Immerhin gab es in den vergangenen 50 Jahren ja auch sehr viele gute Nachrichten, die freilich keine medienwirksamen Schlagzeilen machen. Die Stellung der Frau hat sich zum Beispiel enorm verbessert. Kirche und Gemeinde ist auf der Südhalbkugel explosionsartig gewachsen und noch ist kein Ende in Sicht. Es gibt kein Blei mehr im Benzin. Immer mehr Muslime folgen Jesus. Der Preis für Solarzellen ist in tiefste Keller abgestürzt. Die Kindersterblichkeit ist enorm gesunken, und dennoch wird auch die Weltbevölkerung in absehbarer Zeit wieder sinken. Es gibt immer weniger Armut in der Welt. Wir leben länger, bekommen Zahnpflege auf Höchstniveau und haben immer mehr Freizeit. All das sollten wir dankbar schätzen und feiern und nie, niemals als selbstverständlich betrachten.
Alles gut also?
Wirklich beruhigt kann wohl nur sein, wer in der Eremitenhöhle haust. Alle anderen müssen abwägen, was derzeit mehr Kraft kostet: Zu wissen oder den Kopf im Sand zu halten:
- In Sibirien, Alaska, Kanada und Grönland brennen derzeit 3 Mio Hektar Taiga und Tundra.
- In Südamerika brennt seit Jahren wieder mal der Regenwald (nicht erst seit diesem Jahr, der Wald wird nur jedes Jahr kleiner).
- Vor unseren Augen findet eines der größten Massenaussterben von Arten seit Beginn der Welt statt.
- Der weltweite CO2-Ausstoß hat 2018 erneut seinen eigenen Rekord geschlagen.
- Die weltweiten Ausgaben für Waffen und Rüstung haben 2018 ebenfalls eine neue Rekordhöhe erreicht.
- Die Meere ersticken in Plastik, und am Ende der Nahrungskette isst der Mensch mittlerweile wöchentlich 5-7g Plastik (das entspricht einer Kreditkarte) mit noch unbekannten Folgen.
- Die Durchschnittstemperatur auf dem Land hat sich bis heute um 1,5°C erhöht, in den kommenden 10 Jahren wird sie sich weltweit (d.h. auch über den Ozeanen) um 1,5°C erhöht haben. Solange der Trend fortsetzt, wird dies irreparable Schäden verursachen.
Angesichts dieser Entwicklungen ist die Frage ja schon irgendwie nicht mehr völlig ungerechtfertigt, ob wir vielleicht doch zu denjenigen Auserwählten gehören, die sich zur Bevölkerung der “Endzeit” rechnen dürfen.
Ich wage einen Versuch, indem ich die Frage kurz aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchte: Der theologischen (und damit natürlich richtigen!), der missiologischen (und damit wahrscheinlich lästigsten), und der praktischen (und damit wahrscheinlich jener, die uns alle am meisten interessiert).
Die theologische Perspektive ist schnell und einfach: Wir leben seit der Himmelfahrt in “diesen letzten Tagen” (2Petrus 1,21). Man rechnete im ersten Jahrhundert mit der unmittelbaren Rückkehr des Herrn. Daran hat sich bis heute nichts geändert, außer, dass wir wie die Jünger in Gethsemane schläfrig werden und nicht mehr wirklich damit rechnen, dass Jesus tatsächlich irgendwann mal wiederkommt. Rein mathematisch mag das richtig sein, theologisch nicht. Also: Leben wir in der Endzeit? Ja, wir leben absolut in der Endzeit. Schon seit 2000 Jahren. Keine Frage.
Aus missiologischer Perspektive ist es nebensächlich, wo wir uns auf der Zeitachse befinden. Die Hauptsache ist, Jünger zu machen alle Tage bis an der Welt Ende. Und das bedeutet vor allem, “Zeugnis sein” bis an der Welt Ende. Wir wissen nicht, wann der Herr wiederkommt, aber wir wissen zwei Dinge: Dass er wiederkommt und wir bis zu diesem Tage unsere Talente am meisten Gewinn bringend einsetzen sollen. Wie wir heute, in der oben beschriebenen Welt unseren Herrn am besten verkörpern und widerspiegeln, um sein Reich anschaulich zu machen und Menschen zum kommenden Fest einzuladen, das ist unsere wichtigste Frage. Leben wir also in der Endzeit? Weiß ich auch grad nicht, ich hab nämlich wichtigeres zu tun.
Aus praktischer Perspektive können wir uns wohl nur auf das verlassen, was uns an zuverlässigen Fakten vorliegt. Und die sagen, dass wir unsere eigenen Kinder und Enkel zunehmenden Qualen von bis zu apokalyptischem Ausmaß aussetzen, wenn wir heute keine dramatisch-rigorosen Veränderungen in unseren Systemen vollziehen. Wenn ich die Daten, die mir vorliegen richtig verstehe, gäbe es wohl immer noch die Möglichkeit einer Regeneration der Natur, aber nur, wenn heute wirklich alles und von allen auf der ganzen Welt getan würde, um das Ruder herumzureißen. Als Missionar kann ich aber nur die Beobachtung bestätigen, wie schwer es dem Menschen im Zeitalter der Bequemlichkeit fällt, sich zu bekehren, das heißt umzukehren, Muster und Verhalten zu ändern. Ich halte es daher nicht für völlig unmöglich, aber äußerst unwahrscheinlich, dass die Menschheit zur Vernunft kommt. Leben wir also in der Endzeit? Falls noch nicht, dann höchstwahrscheinlich sehr bald. Um mich persönlich vorzubereiten, habe ich aus diesem Grunde im Sommer das Buch der Offenbarung viele Male ganz durchgelesen, jedes Mal in einer anderen Übersetzung, und das auf drei Sprachen.
Egal was kommt, so finde ich nicht, dass wir wieder klassische Endzeitpropheten brauchen. Was wir noch weniger brauchen, sind Christen, die im Club der toten Fische stromabwärts treiben. Wir brauchen Christen, die klar sehen und dennoch Hoffnung leben, wo jeder Optimismus schon gestorben ist. Und lebendige Hoffnung lebt man nur im Heiligen Geist und mit der Summe seines Alltages. Denn egal, wann der Herr wiederkommt, er ist schon bei uns – und das bis an der Welt Ende.