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Eigentlich symbolisiert der längste Tag des Jahres Licht, Liebe, Leben, Wahrheit. Mittsommer 2020 scheint hingegen einem Horrorfilm entsprungen zu sein.

Als Kind hörte ich viele Geschichten aus dem Krieg, persönlich berichtet von Augenzeugen. Sie handelten von vertriebenen Familien, Hunger, Gefangenentransporten in Güterzügen, explodierenden Panzern. Oder einem Opa, dessen Name ich trage, weil ich ihn wegen einer Granate nie treffen durfte. Laute schlimme Dinge wurden mir anschaulich berichtet, die ich aber kaum verstehen konnte, weil mein eigenes Leben völlig anders war, so ganz ohne Horror und Gefahren. Es gab immer genug zu Essen, zu Lachen, ein Dach über dem Kopf und sich kümmernde Menschen. Wir konnten reisen und das Leben genießen. Irgendwann begann ich mich allerdings zu fragen, warum meine Welt so viel perfekter war als die meiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Und ob es eines Tages vielleicht auch mich, das heißt meine Jahrgänge, alle meine Kumpel, Freunde oder Klassenkameraden, die wir tiefes, kollektives Leid wie Kriege und Naturkatastrophen nur von Schwarzweißfotos, alten Wochenschauen und Erzählungen kannten, eines Tages vielleicht auch treffen wird. Ob die bunte Blase einmal platzen wird. Der Gerechtigkeit halber, sozusagen.

Solche Fragen stellt man sich nicht jeden Tag. Im Gegenteil, man gewöhnt sich schnell und gut an das bequeme Leben mit hohem Standard, wo man sich, natürlich stets umgeben von Netzen und doppelten Böden diverser Versicherungen, alles mögliche leisten kann. Haus, Boot, Auto, Abenteuer und Reisen. Besonders letzteres hat mich immer fasziniert, die große, weite Welt, einmal mit dem Unimog durch die Sahara bis in den Regenwald zu touren, das wäre es gewesen. Daraus wurde zwar nichts, aber solche Dinge nicht nur zu träumen, sondern ernsthaft planen zu können, wurde für mich eine Selbstverständlichkeit, als hätte ich ein Recht darauf. Das ganze westliche Leben war schließlich ein fein lustiger Reigen in sommerlicher Sonne, ganz hoch oben auf Maslows höchster Bedürfnisinstanz: der Selbstverwirklichung. Die dunkle Nacht schaffen wir gerade ab und den ganzen Rest der weniger perfekten Welt gibt es eigentlich nur, um uns noch ein paar Abenteuer zu ermöglichen.

(Dennoch verließ mich meine obige philosophische Überlegung nie so ganz – wird es uns eines Tages vielleicht doch noch treffen, das kollektive Leid?!)

Wir haben aber alle gerne so weitergemacht. Die Autos wurden von Modell zu Modell ein paar Zentimeter fetter, die Besitzer auch, die Urlaube von Jahr zu Jahr ein paar Meilen exotischer, der Wirtschaftsmotor, der das alles bezahlt, ein paar Stufen aggressiver. Doch dann kam 2020. Nicht, dass dieses Jahr wirklich etwas besonderes sei. Es ist doch nur ein weiteres Jahr der Rekorde (der größte Wohlstand, die meisten Flüchtlinge, die wärmsten Temperaturen). Das außergewöhnliche ist nur, dass plötzlich eine Pandemie weltweit laut und deutlich sagt: „Der Kaiser ist ja völlig nackt!“ und wir alle geschockt einen Moment still stehen. Entgeistert erstarrt unser Sonnentanz um den güldnen Stier und keiner weiß so recht, wohin man stieren soll – ob auf die eigene Nacktheit oder besser die schwarzen Wolken am Horizont.

Plötzlich beginnen wir zu ahnen, dass in uns fein geschmückten Tänzern in vermeintlich weißen Kleidern blutrünstige Monster stecken. Die Lehre vom ewigen Wachstum ist eine Türme bauende Sekte, die Hirne waschend den kollektiven Selbstmord vorbereitet.

Die junge Generation will sich nicht mehr rekrutieren lassen, wenn am Ende doch alles in Rauch aufgehen soll. Eigentlich wäre dies eine perfekte Gelegenheit, einen alternativen Lebensstil vorzumachen. Zu Fuß zu reisen, oder bestenfalls auf einem geliehenen Esel, aber immer nur im eigenen Land. Den jungen eine neue Vision zu geben, die göttlicher ist als die menschliche des 20. Jahrhunderts. Eine Gute Nachricht, die größer ist als das Individuum. Die Welt braucht weniger Nachahmer und mehr Vorbilder – und zwar mutige, ehrliche, liebevolle. Doch vielleicht sind wir alle schon viel zu infiziert vom Mammon. Vielleicht müssen wir alle zunächst leiden lernen, um unseren Enkeln berichten zu können, was wir erst im Schmerz verstanden haben. Sie mögen uns vielleicht noch nicht verstehen können, doch sie werden es im Herzen mit sich tragen und wenn die Zeit gekommen ist, ihre Welt verändern.

Author

marcusis@icloud.com

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