Es gibt viele Gründe für die beunruhigend wachsende Zahl seelischer Störungen unter jungen Menschen der westlichen Welt. Gibt es auch Hoffnung? Natürlich, würde ich antworten. Doch daran müssen alle arbeiten, nicht nur die Betroffenen.
Vor mir sitzt ein junger Mann, kräftig, sportlich, bärtig, gutaussehend. Julian wirkt gefasst und ungewöhnlich reif für sein Alter. Er ist viel zur See gefahren, hat auf Kuttern gearbeitet und Segelurlaube für Jugendliche geleitet. Ein echter Naturbursche. Nun planen wir die nächsten konkreten Schritte seiner Zukunft. Er möchte mit Menschen arbeiten, doch er müsse sehr vorsichtig sein. Zweimal schon sei er in heftige Burnouts gecrasht, von denen er sich noch nicht erholt habe. Der Wiederaufbau seiner seelischen Kräfte würde Jahre dauern. Da stimme ich zu.
Laut Wikipedia existieren in Ländern mit größeren sozialen Ungleichheiten mehr Fälle psychischer Störungen als anderswo, Deutschland liegt demnach weit unter dem Durchschnitt, die USA weit darüber. Das mag sachlich stimmen, doch dann muss Schweden die berühmte Ausnahme sein, die die Regel bestätigt. Hier, wo es kulturell verpönt ist, mit seinem Status aus der Gleichheit der Volksmasse herauszuragen, ist seelisches Ungleichgewicht (schwedisch “psykisk ohälsa“, in etwa “psychisch ungesund”) trotzdem ein immer größer werdendes Thema.
Ich beobachte sehr unterschiedliche Reaktionen darauf. Auf der einen Seite werden seelische Störungen als immer normaler angesehen, im Extremfall so sehr, dass es fast schon als unnormal gilt, keine Probleme zu haben. Das andere Extrem ist völliges Unverständnis, Kopfschütteln über die Betroffenen und eine Stigmatisierung psychischer Schwächen, z.B. die Strauchelnden als Weicheier zu betrachten, die heutzutage nichts mehr vertragen können. Junge Generationen neigen dabei zum ersteren Extrem, ältere zum zweiten. Die Debatte wird aber auch kulturell gefärbt. In Schweden hat man sehr viel Verständnis für Stresssymptome, Ängste und psykisk ohälsa, in Deutschland eher weniger.
Das Beispiel zeigt vor allem, wie leicht es ist, übereinander zu reden. Thunberg und Merz reden übereinander, und wir reden über sie. Wie wäre denn miteinander? Was nämlich, wenn wir plötzlich Menschen wie Julian persönlich gegenübersitzen, mit ihm reden, ihm oder ihr in die Augen schauen müssen, wir um Rat gebeten werden, wie man mit seelischen Belastungen fertig werden soll? Was, wenn vielleicht sogar die eigenen Kinder betroffen sind? Ein herablassendes “Stell dich nicht so an” kommt selten gut an. Es wäre gut, etwas besser vorbereitet zu sein denn die Wahrscheinlichkeit steigt, irgendwann gefragt zu werden.
Die folgenden Tipps dazu sind kein Ergebnis wissenschaftlicher Studien und erheben auch keinen Anspruch auf akademische Forschung. Sie folgen meiner eigenen Erfahrungen und meinen Schlussfolgerungen. Julian war nämlich weder der erste, noch der letzte, mit dem ich darüber sprach. Meine Tipps sind sicher verbesserungsfähig, hoffentlich aber auch ein bisschen weise.
Demut ist besser
Vielleicht fängt alles damit an, einzusehen, dass meine eigene Erfahrung immer sehr begrenzt ist. Woher will ich schon wissen, wie mein Gegenüber sich fühlt und wie es dazu gekommen ist? Vielleicht bin ich ja selbst sogar Teil des Problems, ganz ohne es zu wissen oder gewollt zu haben. Deshalb geht es vor allem darum, sich zu interessieren, Fragen zu stellen, und – das Wichtigste – Wertschätzung auszustrahlen. All das geht fast schon automatisch, wenn man sich über Jahre antrainiert, andere so genuin zu lieben wie sich selbst, und sie immer ein kleines bisschen höher zu achten als sich selbst.
Den Fluch des Segens kennen. Und den Segen des Fluchs.
Jeder Mensch strebt ein möglichst einfaches und problemfreies Leben ohne Krankheit und Gefahren an. Allerdings hat dieser Segen einen hohen Preis: Wer nur Rückenwind kennt, baut weder Muskeln noch Kondition auf. Wer sich hingegen ein Leben lang durch Eis und Härte kämpfen muss und doch nicht aufgibt, trainiert sein Durchhaltevermögen. Die Hippie-Generation war vielleicht die erste der Welt, die in allen Bereichen mehr als genug Rückenwind hatte: Nahrung, Unterkunft, Gesundheit, Bildung, Wohlstand. Vom verklärt-erotischen Woodstock-Schlamm zog man aus, sich noch mehr zu nehmen und Milliardenunternehmen aufzubauen. Inzwischen haben sie weitere Generationen gezeugt und erzogen, die mittlerweile sogar schon Enkel bekommen. Nur selten mussten diese Generationen verstorbene Geschwister und Mütter, Hunger, Krieg oder Armut erleben. Was sowohl ein großer Segen als auch eine große, historische Ausnahme ist. Wir aber kennen es nicht anders, sehen es als völlig “normal” an, als Selbstverständlichkeit, als gäbe es ein Recht darauf, dass unser Leben immer besser zu werden hat, die Häuser immer größer, die Menschen immer schöner und die Autos immer dicker. Es hat mich viel Zeit und Nerv gekostet, einzusehen, dass ich auch einer von denen bin – und unterbewusst sogar meine eigenen Kinder in diesem Geiste erzogen habe. Im Grunde haben wir alle maßgeblich dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaften immer etwas schwächer wurden, wenn auch immer etwas luxuriöser. So manche seelische Störung findet hier sehr fruchtbaren Boden zum Wurzeln. Nach ein paar Generationen Inkubationszeit tauchen die ersten gesellschaftlichen Symptome auf.
Theresa lässt grüßen
Viel zeitgemäße Theologie ist ebenfalls von solchen Zusammenhängen beeinflusst, mehr sogar, als uns bewusst ist. Während der Glaube an Jesus in vielen muslimischen Ländern nicht selten einem Todesurteil gleichkommt, betrachten wir im Westen Jesus gerne als gewisses Add-on, das das Leben in linearer Entwicklung noch etwas upgraded, jetzt sogar mit spirituellen Entdeckungen und Himmelsversicherung. Alles Schwere im Leben kann weggebetet werden, die Krankheit hoffentlich schnell geheilt. Dass die Seligpreisungen eigentlich genau das Gegenteil feiern, nämlich jene, denen es dreckig geht, solche, die an Gerechtigkeitsmangelerscheinungen regelrecht verhungern, scheint uns irgendwie nicht mehr zu gelten. Die Pandemie offenbart unsere theologischen Schwächen zu Klage, Finsternis und Schmerz. Vielleicht ist es an der Zeit, sich an Theresa von Avila zu erinnern, die uns auffordert, die Glaubensreise nicht als etwas logisches zu betrachten, sondern als eine Folge aus Reifeprozessen, die sich oft genug heftig zu widersprechen scheinen. Dazu gehört es auch, den Kelch der inneren Leere, des Schmerzes und der Trauer nicht wegzubeten oder zu versüßen, sondern mit beiden Händen zu begrüßen. Weisheit ist, rechtzeitig einzusehen und einzustudieren, wie man das macht. Christen aus westlichem Milieu zweifeln nämlich immer schneller an Gott und leiden sehr darunter, wenn der “Segen” ausbleibt, wie man ihn sich selbst vorgestellt hat, oder es im (Glaubens-) Leben nicht immer so glatt geht und der vermeintliche Erfolg auf sich warten lässt.
Infokamikaze
Noch heute erinnere ich mich an Werbeslogans und -melodien aus meiner Kindheit in den 1970-ern. Es ist ein Beweis für geschickte Überkommunikation zu kommerziellen Zwecken. Meine Kindheit war zwar ganz anders als die meiner Großeltern, die noch ein Leben ganz ohne Radio kannten. Aber sie war vergleichsweise harmlos mit dem, was heute alles an KI-Kommunikation auf uns abgeschossen wird. Die relativ neue Dokumentation The Social Dilemma versucht, den Einfluss der sozialen Medien auf die Seele des Menschen zu beleuchten. Sie sieht unter anderem verblüffende Parallelen zwischen dem Gebrauch sozialer Medien gewisser Altersgruppen und gleichzeitiger Entwicklung der Selbstmordrate in derselben. Ganz besonders haben mich aber drei Kurven angesprochen, die ich versucht habe, hier nachzuzeichnen:
Während die Digitalisierung immer schneller voranschreitet, hat sich unser Gehirn, das mit all dem fertig werden muss, um exakt nullkommagarnichts weiterentwickelt. Die moderne Seele ist ununterbrochen überfordert und daher auch ständig übermüdet. Ältere Menschen können damit besser umgehen, weil sie teilweise andere Gewohnheiten entwickelt haben, teilweise weil man seine Identität gefunden hat. Jüngere Menschen sind hingegen einem ewigen, unterbewussten Stress ausgeliefert. Das zu durchbrechen erfordert eine Kraft, die der Einzelne selten zur Verfügung hat.
Düstere Aussichten
Gewiss, es gibt es immer noch Leugner des Klimawandels. Was aber auch sie nicht leugnen können, ist die Angst davor, die ist nämlich auch sehr, sehr real.. Immer mehr Studien zeigen, dass der Klimawandel Grund Nummer eins zur Sorge, Angst und Trauer ist, und zwar auf fast allen Kontinenten. Die Beobachtung klimatischer Veränderungen kann wohl niemand mehr bestreiten, und die junge Generation muss an ihre Zukunft denken! Viele Träume und Pläne, die ich mit meiner Verlobten vor 30 Jahren noch unbeschwert träumen und schmieden konnte, lösen heute Angst und Stress aus, weil immer mehr dauerhaft ungewiss erscheint und vieles, was wir unseren Kindern über das Leben beigebracht haben (z.B. Schule – Studium – Karriere!), nicht mehr wirklich zu funktionieren scheint – jedenfalls haben wir unsere Kinder nicht auf Ungewissheiten und gefährliche Krisen vorbereitet. Ich hätte gar nicht gewusst, wie man das macht, denn solche gab es nicht zu meiner Lebenszeit, erst recht keine globalen. (Ok, der Beginn des Golfkrieges 1991 verbreitete auch eine gewisse Weltuntergangsstimmung, aber nur kurz.) Meine Frau und ich stehen heute also mit genauso schuldigen wie leeren Händen da wie alle anderen. Im Grunde kann ich nur drei Dinge tun:
1) Um Vergebung bitten, dass ich es nicht schon viel früher begriffen habe als erst mit 50,
2) mein eigenes Leben auch nach 50 noch radikal zu ändern und glaubwürdig zu beweisen, dass ich zumindest jetzt noch ein bisschen was begriffen habe und
3) lernen, ein hoffentlich hoffnungsvolles Vorbild zu werden.
Der Sport der Weisen
In Zeiten der Informationsinflation tut Weisheit not. Wer heutzutage als weise gelten will, muss ungewöhnlich sportlich sein, denn weise Menschen sind sportliche Menschen. Einen großen Teil ihre Zeit des Tages verwenden sie für ihre Lieblingssportart: Dem Werfen.
Alle eure Sorgen werft auf Ihn, denn Er sorgt für euch.
1 Petrus 5,7
Weise zu sein heißt nicht, keine Gefühle zu haben. Weise zu sein heißt oft, wie Jesus an der Begriffsstutzigkeit oder gar Dummheit der Welt regelrecht zu verzweifeln – und dennoch nicht aufzugeben oder bitter zu werden. Weise zu sein heißt weiter zu sehen, und was man dort sieht ist schmerzhaft, aber nicht zu ändern. Es legt Lasten auf die Seele, die krank machen können, wenn man sie nicht abwirft. Es gibt nur eine Adresse, wo diese Sorgen zu entsorgen sind, bei Ihm, weil Er für uns sorgt. Weise zu sein heißt, obgleich man Jahrzehnte vorauszusehen vermag, dennoch keine Sorge vor den nächsten 24 Stunden zu haben, weil jeder Tag bereits seine eigene Plage hat. Ein Weiser ist sehr damit beschäftigt, die Sorge der kommenden 3650 Tage auf den Herrn zu werfen, gerade das macht den Weisen weise.
Die Ruhe der Weisen
Wer seine Sorgen abgeladen, wer seine täglichen Tränen vor dem Herrn geweint, wird Frieden finden. In Gedanken und im Herzen. Wer Frieden hat, fühlt sich geborgen und geliebt. Die sprichwörtlichen Felsen in der Brandung sind genau solche Menschen. Seelisch enorme Brocken, unglaublich stark, unglaublich friedlich. Jeder Angriff prallt an ihnen ab. Sie wissen, wo sie hingehören. Dort stehen sie, und nicht die stürmischste Flut kann sie umhauen.
Wenn ich mich heute umschaue, finde ich viele Informationsfluten. Es gibt enorme Mengen Theoretiker und ebensoviele Quacksalber. Ich meine, noch mehr Besserwisser zu sehen. Doch ehrlich gesagt, ich finde wenig Weise. Sie sind sehr rar gesät. Dabei wäre es das, was die Welt am nötigsten braucht.
Es ist also wichtiger, den Weg zur Weisheit zu weisen, statt arrogant auf die zu zeigen, die uns vermeintlich als Weicheier erscheinen. Vermutlich sind wir nämlich selbst gar nicht so hart gekocht, wie wir es gerne glauben wollen. Weisheit ist ehrlich und liebevoll, sie kümmert sich, aber zwingt nicht. Weisheit zeigt die Wege auf und gibt jedem doch die Freiheit, selbst die weise Wahl zu treffen. Wie Julian. Heute ist er verheiratet und beliebter Jugendarbeiter, ein humorvoller und tiefgängiger Kerl, mit dem man gerne redet. Und manchmal, wenn er Zeit und Lust hat, sticht er wieder ein paar Tage in See.