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9. Mai. Rund zweieinhalb Monate hält Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine jetzt schon an. Kein Ende in Sicht. Dieser Krieg belastet mich. Ich mache keinen Hehl daraus. Er zehrt an mir. Die Tatsache etwa, dass der Krieg überhaupt anfangen wurde. Des Menschen Dummheit nervt mich so was von! Sie scheint viel schwerer zu wiegen als des Menschen Sünde. Manchmal frage ich mich, ob Dummheit und Sünde nicht dasselbe ist: Mit dem Sündenfall wurden wir einfach zu blöd, würdig weiter als Gottes Ebenbilder agieren zu können, nämlich weise, bedacht, klug, liebevoll, kreativ, weit- und umsichtig – herrschen wie ein guter Schöpfer eben. Aus majestätischen Hoheiten wurden dann mondkälbische Doofköppe, die sich für superwichtig, superschlau, superduperintelligent, ja, allmächtig halten – und dabei auf unserer irdischen Bühne vor dem Publikum sämtlicher Wesen des Himmels und der Erde den tragischen Ruhm der trotteligen, mitunter gemeingefährlichen Clowns des Universums ernten. Was für eine Schande müssen diese “Ebenbilder” für ihren Schöpfer sein! (Kein Wunder, dass Jesus völlig nackt am Kreuz auch die Scham des Schöpfers und nicht nur die Schuld des Geschöpfs tragen und begraben musste.) Auf der Suche nach einem besseren Verständnis der Ursache des Krieges habe ich zwar ein paar Texte russischer Verfasser gelesen, und verstehe das russische Welt- und Selbstbild jetzt etwas besser. Die Invasion und ihre Durchführung aber kann ich immer noch nicht begreifen – nicht mal ansatzweise.

Dazu kommt diese rücksichtslose Brutalität. Ich weiß sehr wohl, dass es keine sauberen Kriege gab, gibt und je geben wird. Das Einnehmen aber, das “Besiegen” oder “Befreien” einer total zerstörten, verbrannten Stadt zum Beispiel, in der rein gar nichts mehr funktioniert, das Feiern der “Beute” aus kilometerlangen und hässlichen Haufen qualmender und stinkender Ruinen ohne jedes Leben, weil man zuvor bewusst Rentner, Schulen, Krankenhäuser, Theater, jedes wehrlose, menschliche Leben, Tiere, Gärten und überhaupt restlos alles absichtlich und grundlos kurz und kleingebombt hat (und wer es dennoch überlebte, wurde kaltblütig gefoltert und abgeschlachtet), dieses Verhalten ist in sich total sinnlos und blamabel, es hat etwas fürchterlich Absurdes und makaber Fratzenhaftes an sich. Man könnte meinen, hier wären Drachen aus einem Fantasyfilm am Werk gewesen oder grauenvolle Dämonen im Auftrag des Satans persönlich, dabei waren Auftraggeber und -ausführende Menschen des 21. Jahrhunderts – eigentlich geschaffen als Gottes Ebenbilder. Dieser Ruf färbt unweigerlich auch auf Dich und mich ab, ob es uns nun gefällt oder nicht. Und mir gefällt gar nichts davon.

Doch was mich am allermeisten nervt, ist die schreckliche Einsicht, wie sehr wir alle zur brutalen Verheerung wehrlosen Lebens beitragen. Man muss nicht Putin oder Lavrov heißen oder mit dem Finger auf russische Soldaten und Söldner zeigen. Der Krieg Russlands, so schrecklich er ist, hat nur symbolischen Charakter, weil er noch verhältnismäßig harmlos ist gegenüber der Klimahölle, die schon lange vor dem 24. Februar unaufhaltsam auf dem Weg war. Tag für Tag kommt sie näher. Sie degradiert selbst harmlose Kaninchenzüchter oder Gartenzwerghalter auf das selbe Niveau wie Kriegstreiber. Unkenntnis, Naivität oder Ignoranz fällt in die gleiche Kategorie Dummheit. Es macht mich fassungslos, durch den Krieg einsehen zu müssen, in welchem Ausmaß wir Europäer noch immer von fossiler Energie abhängig sind. Und mit welcher Vehemenz wir uns daran festklammern, weil es “anders” angeblich “ja nicht geht”. Derweil klickt die Zeit erbarmungslos. Wenn man die (im Link angezeigte) globale Zeit auf den Westen herunterbricht, müssten wir Europäer schon in rund 4 Jahren komplett klimaneutral sein. Das wird uns kaum gelingen, und im Vergleich zu dem, was wir damit entfesseln, wäre die erste Atombombe, die Putin vielleicht zündet, die reinste Silversterrakete. Das Verhandeln über “Energieembargos” oder “LNG” ist für mich wie eine Horrorshow. Wir sind wirklich gerade dabei, die Endzeit der Offenbarung einzuläuten – auch wenn ich das lange nicht wahrhaben wollte, doch der Krieg und was er alles offenbart zwingt mich zu diesem Rückschluss.

Die Einsicht, dass viel zu viel von dem, mit dem ich groß geworden bin, auf Unkenntnis, Täuschung, Unwahrheiten und Lügen beruhte, ist sehr schmerzhaft, sehr, sehr schmerzhaft. Nein, ich bin alles andere als der tolle Hecht, für den wir uns ja alle irgendwie immer gehalten haben. “Die Milch macht’s!” hieß zum Beispiel eine dieser Unwahrheiten in Form von Werbeslogans in meiner Schulzeit. Ja, weiß ich heute, sie macht’s, vor allem macht sie Prostatakrebs, an dem mein lieber Papa viel zu früh gestorben ist, der immer gerne viel Milch trank. Unser enormer Energieverbrauch, an dem wir seit Milton Friedman unseren Wohlstand messen, hat einen eminent zerstörerischen Preis. Mein eigenes Konsumverhalten, das ich selbst über Jahrzehnte als etwas völlig Normales und sogar Erstrebenswertes angesehen hatte, kostet Menschenleben, viele Menschenleben. Bin ich wirklich so viel sauberer als der Söldner, der Kehlen durchschneidet?

John Newton, ehemaliger Reeder und Sklavenimporteur, meistens bekannt als Verfasser des berühmten Liedes Amazing Grace, sagte, dass er täglich von tausenden Gespenstern verfolgt werde, nämlich den Geistern der Afrikaner, denen er durch seinen Menschenhandel die Würde und das Leben stahl. Wieviele Gespenster verfolgen mich da wohl, ohne, dass ich es überhaupt mitbekomme? Sicher ist, dass ihre Zahl noch lange nicht vollständig ist, denn die meisten Opfer meines westlichen Lebensstils werden erst in der Zukunft daran glauben müssen. Doch schon heute kommen wieder einige aus der indischen Hitzewelle hinzu, und schon heute verändert sich mein Glaube. Mein Glaube an den Fortschritt verwelkt in der Hitze der Nachrichten, und wenn Fortschritt, dann bestenfalls als Entkommen aus alten Lügen und Mustern. Ich muss keine Kuhmilch mehr ins Müsli gießen. Mir reicht Gemüse, wenn 70% der EU-Anbauflächen nur für Tierfutterproduktion verschwendet werden. Oder ein ganz normales Fahrrad statt fetter Offroad-Reifen wie früher.

Eines der persönlichen Gespenster, die mich heutzutage sehr spürbar umspuken, heißt “Einsicht meiner eigenen Unkenntnis und Ignoranz, die mich jahrzehntelang eingelullt hat”. Ein weiteres heißt “meine große Schuld, die so, so viel mehr umfasst, als was in Kirchen üblicherweise als ‘Sünde’ angesehen wird”. Noch ein Gespenst heißt “meine Scham, die Nacktheit, dass meine zerstörerischen Beiträge in der Welt immer offensichtlicher werden und einfach nicht mehr verleugnet werden können” – ich war alles andere als ein guter Verwalter der uns anvertrauten Schöpfung. Doch das lauteste und allerschlimmste Gespenst heißt “meine Angst vor dem Geist der Blödheit”. Dieser Geist versteht es nämlich sehr gut, uns auf intelligente Weise zu großer, innerer Beschränktheit zu verführen. Das sind einige Gespenster meiner Sünde. Was soll ich tun? Entweder beuge ich mich unter jenem berühmten Brett mit der Aufschrift INRI oder ich trage das eigene, unrühmliche Brett mit den Namen meiner Gespenster weiter vor dem Kopf mit mir herum. Mit Blick auf die heutige Weltlage wähle ich daher, täglich zu stöhnen, zu heulen und zu jaulen – um dann auf die Knie zu gehen. Ich wähle Buße mit zerknirschtem Herzen. Ich will Vergebung empfangen für alles, was ich noch nie erkannt und bekannt habe. Ich will wieder mit Ehre überkleidet werden. Ich will wieder furchtlos auf den setzen, der die Welt überwunden hat. Ich möchte wieder singen können wie John Newton. Und demütig hoffen, darin ein wohltuender Kontrast zu Offenbarung 9,20 und 16,9 zu werden und zu bleiben.

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marcusis@icloud.com

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