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Triggerwarnung: Dieser Artikel berührt nicht nur ein heißes Eisen.

Die Anzahl meiner gereisten Meilen pro Jahr ist auf einen Bruchteil geschrumpft, seit ich kein Europadirektor mehr bin. Das find ich traurig und super. Mein Airline-Goldstatus ist futsch (Schmerz!), auf den war ich echt stolz. Nun reise ich, wenn überhaupt, loungelos mit dem Rad, manchmal auch im Zug. Das ist cool auf eine andere Art, vor allem aber war es überfällig und ist mehr als angemessen. Die pakistanische Klimaministerin Sherry Rehman äußerste neulich, das die 40 Milliarden Euro Schaden, die die jüngste Überschwemmung in ihrem Land verursacht hat, vom Westen getragen werden sollten. Dabei hat man im Westen kaum von der riesigen Katastrophe gehört, die bislang weit über tausend Opfer gefordert hat und immer noch anhält. Doch ich gebe ihr Recht: Der Westen hat sich mit seiner Energieausbeutung enorm bereichert, den Preis dafür zahlen nun die Armen. Doch solche Gedanken sind in Europa nicht gerade populär. Eine von der R&V-Versicherung beauftragte Studie bescheinigte den Deutschen erst diese Woche, das ihre größten Ängste nicht etwa von der Zerstörung des Planeten oder, nicht ganz so schlimm, einem Atomkrieg handeln. Nein, es ist der potentielle Verlust unseres hohen Wohlstandes, der uns Germanen gerade schlaflose Nächte bereitet.

Meiner Generation, sozialisiert im Überfluss, fällt es schwer, plötzlich spürbare Abstriche machen zu müssen. Der Generation vor mir, den Boomers, fällt es noch schwerer. Den jüngeren Generationen fällt hingegen mehr und mehr auf, welche Folgen der Überkonsum des Westens auf deren Leben und Zukunft, ja auf die ganze Welt hat. Nicht nur auf Pakistan. Die immer größer werdenden Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit bei jungen Menschen sind wenig verwunderlich. Hoffnungslosigkeit breitet sich aus.

Doch zum Glück gibt es Gemeinde! Wir sind nicht nur Salz und Licht und damit Botschafter der Hoffnung, wir sind auch Experten in Buße und Vergebung. Unser Glaube an Jesus bietet eine zweite, dritte, vierte Chance. Wenn die Welt verzagt, haben Christen sich mutig engagiert und sogar ihr Leben auf’s Spiel gesetzt. Missionsgeschichte ist voller Geschichten gegen das Leid der Welt. Wir wissen also, wie man von bösen Wegen umkehrt, sind geübt darin, Destruktives in der Kraft des Auferstandenen zu Konstruktivem zu verändern. Also nahm ich mir die Freiheit, am Ende eines Treffens mit freikirchlichen Leitern aus anderen Gemeinden, um ein paar Extraminuten zu bitten. Ich wollte eine Frage stellen und ihre Meinung hören.

Ich sagte, dass ich im Sommer 22 eine gewisse apokalyptische Stimmung in der Gesellschaft wahrgenommen habe: Da waren die Folgen der Pandemie, der Krieg, Europas schlimmste Dürre seit 500 Jahren oder die Einsicht, dass der Klimawandel schlimmer werden könne, als befürchtet. Ich sagte, eine Schwere zu spüren, die irgendwie tabubehaftet sei, weil niemand sie anspricht. Und so fragte ich, ob andere das auch so wahrnehmen und wenn ja, was das für uns als Gemeinden bedeute. Wie thematisieren wir es, wie helfen wir gerade jungen Leuten, damit fertig zu werden?

Ihre ernsten, schweigenden, wenn auch etwas überrascht nickenden Gesichter genehmigten mir diese Verlängerung.

Man stimmte mir zu, fühlte sich aber etwas ertappt, offenbar hatte niemand so konkret darüber nachgedacht. Ja, manchmal empfinde man das auch so. Und ja, Gemeinde könne und solle hier sicher eine wichtige Rolle spielen. Wie genau, müsse man herausfinden. Wichtig, ja, absolut. Planen würde es aber gerade keiner. Und überhaupt, begann jemand, sei es ja auch kein Wunder, das die Welt in diesem Zustand sei. Nun habe A, eine schwedische Denomination, ja auch angedeutet, eventuell Homosexuelle zu segnen. Und B, ein bekannter Leiter, habe ähnliche Äußerungen zum Thema Ehe gemacht, wusste ein anderer. Und so ging es dann weiter. Die Sexualmoral. Diese oder jene Gemeinde habe sich jetzt auch so oder so entschieden. Kein Wunder also, dass die Welt den Bach runter geht. Ich unterbrach das Gespräch. Das sei ja alles hochinteressant, sagte ich, doch wie genau können wir als Gemeinde der zunehmenden apokalyptischen Stimmung in der Gesellschaft entgegenwirken?

Ach ja, genau. Ja, richtig. Wirklich. Superwichtig, keine Frage. Kurzes Nachdenken. Ach übrigens, wusste da noch jemand, konnte man in C und D, zwei christlichen Tageszeitungen (oft die einzige Nachrichtenquelle vieler Christen hier), auch noch dieses und jenes über A und B lesen. Wieder allgemeine Empörung, kollektives Kopfschütteln. Also, diese Sexualmoral. Dann ist es wirklich kein Wunder, dass die Endzeit sich nähern muss, wenn sich alles so verhält. Ich unterbrach ein zweites Mal und bedankte mich für die Extrazeit aller Anwesenden. Das Treffen war aus, wir gingen heim.

Das war vor zwei Monaten. Seither versuche ich herauszufinden, wie es gelingen kann, eine Antwort auf die Frage „Wie können wir der Hoffnungslosigkeit unserer Zeit entgegenwirken?“ innerhalb kurzer Zeit mit Homosexualität zu verbinden. Und das gleich zwei mal. Man hätte als außenstehender Zuhörer ohne Weiteres die Schlussfolgerung ziehen können, die Diskutierenden sähen Homosexualität als wahre Ursache für den Klimawandel (auch wenn das sicher von niemanden so gemeint war – also, hoffentlich!). Warum ist Homosexualität für Christen immer noch so viel wichtiger als zum Beispiel die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen – übrigens ebenfalls aus ethisch extrem zweifelhaften Motiven? Was kontrolliert uns hier? Mir geht es hier weniger um das Thema (Homo-) Sexualität, nein, mir geht es um die Priorität der Themen und wie wir Christen in unserer Zeit agieren und reagieren. Mir scheint, es fällt uns manchmal leichter, Feuer und Schwefel zu sein als Salz und Licht.

Neulich musste ich nach Stockholm. Als Ex-Goldstatus-Flugpassagier wählte ich natürlich die loungelose Alternative Zug. Schon auf dem Weg zum Bahnsteig kamen wir mehrere lesbische Pärchen entgegen. Im Zug angekommen musste ich erstmal mein Fahrrad in einer speziellen Transportvorrichtung verstauen. Das brauchte etwas Zeit und währenddessen verabschiedete sich hinter mir schwules Paar. Sich zu trennen, war für die beiden deutlich schwerer, als für mich das Rad in die Hängevorrichtung zu wuchten, und gezwungenermaßen hörte ich ihnen zu. Keine Frage, die beiden liebten sich wirklich. Auf der Reise saß mir gegenüber dann noch ein lesbisches Pärchen, das sich abwechselnd sehr liebevoll und zärtlich am Rücken krabbelte, und zwar stundenlang. Selten sind mir so viele offensichtlich Homosexuelle im normalen Alltag begegnet. Da kam mir eine Frage: Ich wurde schließlich entsandt, um neue Wege für die Gemeinde der Zukunft zu erschließen, was wäre also, wenn ich in einem futuristischen Szenario der einzige Heterosexuelle im ganzen Zug wäre? Oder angenommen, ich wäre als Heterosexueller in irgendeiner Gesellschaft völlig in der Unterzahl. Wie würde ich mich dann verhalten? Plötzlich war die Antwort ganz logisch: Na klar doch, natürlich nicht anders, als ich mich jetzt auch verhalte! Ich rede mit den Menschen, ich witzle und lache, versuche, Vertrauen aufzubauen, ich esse mit ihnen. Ich möchte Salz und Licht sein, Liebe und Hoffnung ausstrahlen, ein Vertreter Christi sein, ganz egal, wo ich bin, ob unter Christen, Juden, Muslimen, Atheisten, alten Leuten, jungen Leuten, homosexuellen Leuten.

Vielleicht liegt hier das Hauptproblem: Wir sehen uns in der Überzahl, und damit sehen wir uns irgendwie im Recht. Historisch sind wir es als Christen nicht gewöhnt, eine Minderheit zu sein, erst recht keine unterdrückte, die für ihre Stammeszugehörigkeit, ihre Sprache, Religion oder anderes leiden muss. Christen waren es lange gewohnt, Macht zu haben. Über viele Jahrhunderte haben Kirchen die Politik und ihre Gesetze beeinflusst, haben „christliche Gesellschaften“ mit „christlichen Werten“ aufgebaut. Das fühlte sich gut an. Wenn Sherry Rehman aus Pakistan uns nun aber plötzlich die Folgen unserer „christlichen Werte“ in Rechnung stellt, wenn Globalisierung und Migration unsere homogenen Mehrheiten aufweichen, wenn früher illegale Minderheiten ihre Überzeugungen auf jedem Bahnsteig zeigen dürfen und obendrein auch noch unser Luxus auf dem Spiel steht, dann reagieren wir mit Angst. Und die führt entweder zur Flucht oder zum Angriff.

Beides erleben wir gerade deutlich, auch (oder vielleicht gerade) in christlichen Kreisen, die Flucht in eine heile. fromme Welt oder der Angriff durch vermeintlich christlich-radikale Parteien. Weil wir gerade unseren Status Quo verlieren. Das will natürlich keiner, deshalb wir suchen nach Sündenböcken. Doch statt immer nur andere für jede Misere verantwortlich zu machen, müssen wir uns dringend selbst den Spiegel vorhalten. Wir müssen uns selbst begegnen und uns ehrlich fragen, ob die Person oder die Gemeinde im Spiegel vor uns nicht mindestens genauso viel Schuld an der Misere trägt. Darin läge eine enorme Chance, sich wieder zu Experten in Sachen Buße und Vergebung zu entwickeln. Wer selbst von Jesus eine fünfte oder sechste Chance erhalten hat, dem fällt es leichter, anderen eine zweite oder dritte zu geben. Wenn wir selbst von unseren bösen, oft nur schöngeschminkten Wegen umkehren, üben wir uns darin, Destruktives in der Kraft des Auferstandenen zu Konstruktivem umzuformen. Und das heißt, den Bach wieder herauf zu wandern, zur Quelle. Das ist nützlich, aufbauend und schöpferisch, aber keine luxuriöse Reise. Der Weg zur Quelle ist steinig, beschwerlich und ohne jede Lounge, dafür mit vielen Umwegen und Verspätungen. Doch auf genau diesem schmalen Pfad werden wir beginnen, unseren Ballast aus religiösem Getue abzulegen und wieder echte und authentische Hoffnung auszustrahlen.

Und das war es ja, wonach ich gesucht hatte.

Author

marcusis@icloud.com

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