Nicht am Glauben. Am ”aufgeklärten” Westen.
Als jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, habe ich zwischen den Zeilen gelernt, dass es besser ist, nicht zu tief in der Geschichte zu graben. Das könnte unangenehm werden. Ich möchte diese Erfahrung nicht verallgemeinern, sie war sicher sehr subjektiv. Aber das Echo für mich war: ”Irgendwann muss es auch mal gut sein, lasst uns lieber nach vorne schauen, als uns ständig mit den vergangenen Taten der Geschichte zu quälen”. Und so habe ich gelernt, vor allem nach vorne zu schauen. Mit Freude habe ich viele große und kleine Visionen entwickelt. Daran ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil, gerade heute brauchen wir neue, bunte, realistische Zukunftsbilder, die inspirieren und zum Handeln anregen. Vor knapp zwanzig Jahren erhielt ich den Auftrag, neue Ansätze für Kirche und Gemeinde zu entwickeln. Mit großer Freude und Begeisterung habe ich mich an die Arbeit gemacht. Entwickelte Theorien, Alternativen, Theologien, probierte sie aus. Es dauerte nur 15 Jahre, bis mir klar wurde: Ohne Geschichtskenntnisse geht es nicht! Irgendwann muss man den Tatsachen ins Auge sehen. Auch wenn man anderthalb Jahrzehnte braucht, um das zu begreifen. Und um den Mut aufzubringen, es wirklich anzugehen.
Warum sind wir im Westen so? Warum ticken wir so? Was ist es wirklich, das unsere Entscheidungen unterbewusst und damit unbewusst steuert? Diese Frage wird immer drängender. Wo fängt die Suche nach Antworten an? Nun, eigentlich ist diese Selbsterkenntnis schon der Türöffner in andere Welten. Wenn man es einmal wagt, das Eingangstor zu durchschreiten, erklären sich die weiteren Schritte fast von selbst. Außerdem spüre ich, wie mich Gottes Geist an die Hand nimmt und mich auf Dinge hinweist, die ich selbst nie gefunden hätte, weil ich dort nie gesucht hätte.
Mit diesem Blogeintrag möchte ich eigentlich nur mitteilen, dass ich gerade auf Reisen bin. Nicht auf Urlaubsreise, sondern auf Forschungsreise. Nicht physisch, sondern geistig. Nicht in die Ferne, sondern in die Tiefe.
Und noch etwas muss man wissen. Diese Reise ist eine Bußreise. Sie zwingt mich immer wieder auf die Knie, lässt mich beschämt das Haupt senken und meinen Schöpfer um Erbarmen bitten. Nicht so sehr als Individuum, sondern weil ich Teil einer (Völker-)Gemeinschaft bin, die sich für gebildet und klug hält und doch jämmerlich versagt.
Nur ein Beispiel: Als Dozent für Missionswissenschaft muss ich mich auch mit Missionsgeschichte beschäftigen. Und da kommt man an Imperialismus und Kolonialisierung nicht vorbei. Bei meinem Bußgang wurde mir Shashi Tharoors Buch ”Zeit der Finsternis” gereicht, das diese Epoche aus indischer Sicht beschreibt. Eine wirklich schreckliche Lektüre. Mit der Kolonialisierung begann auch die westliche evangelische Mission in Übersee, unter anderem in Indien. Auch wenn viele der alten Missionare gute Menschen mit liebevollen Werten waren, war das aus der Sicht der Unterdrückten kaum zu erkennen: Jesus war der Gott der Ausbeuter und Peiniger. Indien ist nur ein Land unter vielen. Plötzlich verstehe ich, warum so viele Menschen auf der Welt dem Westen und seinem Glauben immer noch skeptisch gegenüberstehen und im Extremfall zu den Waffen greifen. Denn vieles ist aus ihrer Sicht nach wie vor ununterscheidbar.
Statt Demut und Versöhnungsbereitschaft ist die westliche Reaktion Empörung. Schließlich hält man sich immer noch für überlegen und glaubt, dass eines Tages sowieso alle so leben werden wie wir. So habe ich es jedenfalls selbst lange Zeit empfunden und war damit selten allein. Vielleicht musste man erst selbst fremd werden, anderthalb Jahrzehnte in einem Stadtteil mit vielen, vielen anderen Hautfarben, Sprachen und Religionen leben, um diese harte Schale zu knacken?
Nein, ich zweifle nicht am Auferstandenen. Im Gegenteil, ich sehe ihn mehr denn je als meinen Herrn und Gott, als meine einzige Hoffnung. Aber ich verliere den Glauben an den aufgeklärten Menschen. Der alles für möglich hält. Dessen Türme der Selbstverherrlichung gerade zu bröckeln beginnen, um bald in noch größeres Durcheinander zu stürzen. Schmerzlich, dass dies auch mich einschließt. Ein Grund, mit gesenktem Haupt still um Erbarmen zu bitten. Schmerzlich auch, dass selbst viele Brüder und Schwestern im Herrn dieser Verblendung auf den Leim gehen. Die sich auf der Suche nach der perfekten christlichen Gesellschaft auf Politiker verlassen. Oft gerade auf solche mit zweifelhafter Integrität, mit fragwürdigen Methoden, mit undurchsichtigen Motiven. Auch hier lehrt uns die Geschichte so manches.
Ich bin traurig, aber diese Traurigkeit treibt mich an, weiter zu suchen, weiter zu graben, weiter zu forschen. Ich kann und will nicht zurück. Denn Gottes Geist gibt mir die Zuversicht, dass ich neues Licht finden werde. Es leuchtet schon. Ich schaue nach vorne, indem ich mich zurück in die Geschichte grabe.
Und im Zweifel wächst eine ganz neue, bisher unbekannte Gewissheit.