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Der vergangene Blogeintrag handelte von der Reise, auf die ich mich begeben habe – ausgelöst durch knapp zwei Jahrzehnte Lebenserfahrung als Ausländer unter Ausländern. Es dauerte eine ganze Weile, einzusehen, dass meine Weltsicht auf Annahmen fußt, die nicht mehr wirklich fit für unsere Zeit scheinen. Die zweitens unterbewusst, also irgendwo im Verborgenen schalten und walten. Diesen unerkannten Grundannahmen möchte ich auf die Spur kommen. In der Hoffnung, nicht nur meinen eigenen, sondern den Grundfesten des ganzen westlichen Denkens auf die Schliche zu kommen. Um dann hoffentlich zu entdecken, was hier, heute und morgen gebraucht wird, um langfristig Salz und Licht zu bleiben.

Meine erste Konsequenz war, mich langsam, aber sicher aus den sozialen Medien zurückzuziehen. Die haben nämlich weder Tiefe noch Weite, sind nur unnütze Strohfeuer. Schön anzuschauen vielleicht, doch nicht ungefährlich. Das ungefährlichste ist vielleicht, dass man dort große Reichtümer wertvoller Zeit sinnlos verbrennt. Also: Nichts wie weg hier! Lieber möchte ich etwas Handfestes lernen. Also: Bücher statt Insta, Autoren statt Influencer! Werke, die Geschichte beschrieben oder geschrieben haben. Autoren, die wirklich wissen, wovon sie sprechen, auch wenn man nicht immer einer Meinung mit ihnen sein mag. Ich wollte mich in grundlegende Literatur vertiefen. Werke, die mir helfen können, den Keller aufzuräumen. Keine weiteren Anleitungen für Fassadenanstriche und Vorgartenzwerge. Doch wo bloß fängt man an, wenn man sich eigentlich geschichtlich als eher unterbelichtet betrachtet, literarisch unausgebildet, philosophisch ahnungslos? Der beste Anfang ist wohl nur der, den man auch wirklich hinkriegt und durchzieht. Weil man ein Buch findet, das zumindest ansatzweise in diese Kategorie passt, das einen wirklich interessiert, von einem Autor, den man mag. Man muss nicht, nein, man darf nicht gleich mit Aristoteles im Original anfangen, dann scheitert man bloß. Für mich wurde es also:

Jonathan Sacks: “Not in Gods Name: Confronting Religious Violence

[Nicht im Namen Gottes: Auseinandersetzung mit religiöser Gewalt]

Jonathan Sacks kannte ich schon von mehreren Artikeln. Seine Art zu denken beeindruckte mich schon immer. Sacks ist bzw. war ein sehr weiser, belesener, weltoffener und gläubiger Jude. Einige seiner Ideen, welche Rollen Religion in unserer Zeit habe, diskutierte ich schon mit meinem Team als Europadirektor. Das Buchexemplar auf dem Foto bekam ich vor ein paar Jahren als Geschenk direkt vom Verlag, seither wartete es im Regal. Bücher dieser Art lese ich vorzugsweise auf schwedisch, weil ich hier vor Ort kommuniziere und damit wichtige Gedanken nicht selbst übersetzen muss. Außerdem entwickelt es meine historisch-philosophisch-theologischen Sprachkenntnisse.


Jonathan Sacks

(1948-2020) war britischer Philosoph, Theologe und Autor. Von 1991 bis 2013 war er britischer Großrabbiner.


Die englische Originalausgabe erschien 2015 in einer Zeit, als religiöser Terror gerade zum Thema in Europa wurde (das Charlie-Hebdo-Attentat geschah am 7. Januar 2015). Sacks beleuchtet “das Böse” aus verschiedenen Blickwinkeln, erklärt die Psychologie der Gewalt (z.B. Verdrängung eigener Probleme und Unzulänglichkeiten und in Folge eine dualistische Projektion auf andere – “ich bin gut, die sind böse”) oder typische Entwicklungsstadien der Gewalt (etwa, dass es meistens mit der Sprache anfängt, indem man den “bösen” Anderen sprachlich entmenschlicht, wie im Dritten Reich geschehen). Natürlich kommt Sacks nicht umhin, auch den ewigen Geschwisterkonflikt zwischen Ismael und Isaak zu bearbeiten und widmet ihm ein ganzes Drittel des Buches. Im dritten und letzten Teil macht er Vorschläge, wie wir mit Andersdenkenden, Machtfragen und auch schwierigen Texten z.B. im Alten Testament umgehen können.

Sacks schreibt offen, ehrlich, selbstkritisch. An keiner Stelle bekam ich das Gefühl, er sei bitter oder frustriert. Im Gegenteil, seine Offenheit und Ehrlichkeit erfrischt trotz der Schwere des Themas. Ich lerne viel aus und über die Geschichte, nehme sehr wertvolle Kenntnisse aus dem Buch mit. Besonders beeindruckend war für mich aber seine Art, alttestamentliche Bibeltexte entsprechend seiner jüdischen Tradition und mit seiner ganzen Kompetenz ausgelegt zu bekommen. Altbekannte Geschichten leuchten hier plötzlich in völlig neuem Glanz, bekommen eine ungeahnte Tiefe, manchmal ganz neue Bedeutungen. Das ist sehr faszinierend. Ich frage mich also, warum die westliche Kirche diesen jüdischen Schatz so achtlos verworfen hat und ihre neutestamentliche Theologie stattdessen auf das Fundament der griechischen Philosophie mauerte. Und wie es eigentlich dazu kam, frage ich mich. Diese Fragen haben mich schon länger beschäftigt, doch nach Sacks Lektüre bekommen sie noch viel mehr Gewicht. Ich frage mich auch, wie Kirchen und Gemeinden heute sein könnten, hätte man mehr Acht auf unser hebräisches Erbe genommen.

Und nicht zuletzt: Wieviele der ganz oben erwähnten Annahmen, die uns aus dem Dunkel des Unterbewussten heraus steuern, sind wie die Fäden einer Marionette, an deren Ende in Wahrheit aber keine christlichen Werte bestimmen, sondern Theorien von Platon oder Aristoteles herumzerren?! Ich weiß es nicht – doch ich schöpfe Verdacht…

Einige Zitate, die mir gefallen:

In der Geschichte der Religionen haben Menschen allzu oft den Gott des Lebens angerufen, wenn sie getötet haben, den Gott des Friedens, wenn sie Krieg geführt, den Gott der Liebe, wenn sie gehasst, und den Gott des Mitleids, wenn sie Gräueltaten verübt haben.

Der Prophet warnt – er sagt nicht voraus. Das Morgen wird von den Entscheidungen geprägt, die wir heute treffen. Für den Propheten ist die Zeit nicht der unerbittliche Lauf des Schicksals, sondern die Antwort der menschlichen Freiheit auf den Ruf Gottes.

Die Einteilung der Welt in Sünder und Heilige, in Erlöste und Verdammte ist ein erster Schritt zur Anwendung von Gewalt im Namen Gottes.

Macht kann nicht bestimmen, was richtig ist. Genauso wenig wie der Sieg bestimmt, was wahr ist.

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