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Die ersten Etappen dieser Reise zum Mittelpunkt des Denkens waren vielleicht ein wenig schroff, doch nun wird’s stürmisch. Horst-Eberhard Richter rührt ordentlich im Eingemachten. Seine Analyse ”Der Gotteskomplex” beobachtet 1979, dass irgendwas mit der Jugend nicht recht stimme. Er beruft sich beispielsweise auf die Kinder vom Bahnhof Zoo, die ein prominentes Beispiel für den stark steigenden Drogenkonsum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden. Richter erkennt darin wie auch in weiteren alternativen Jugendkulturen der 1970-er ein Muster des Unmuts junger Menschen, einen Protest der Heranwachsenden gegen die Absurdität der westlichen Gesellschaftsentwicklung. Richter will damals schon, genau wie ich heute, den verdeckten Ursachen auf die Spur kommen, und macht sich mit seiner Erfahrung und Kompetenz als Mediziner, Psychiater und Psychoanalytiker an die Forschungsarbeit. Seine Diagnose wird zum unseligen Erwachen. Doch gleichzeitig so brandaktuell, dass das Buch 2005 neu aufgelegt wird. 

Horst-Eberhard Richter
(1923-2011)

Mediziner, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Psychoanalytiker und Professor für Psychosomatik. Sozialphilosoph und Aktivist in der deutschen Friedensbewegung. 

Richter vergleicht den Zustand der westlichen Gesellschaft mit den typischen Verhaltensmustern eines dauerhaft schutzlosen Kindes, weil es z.B. zu früh elternlos geworden ist: Um die fehlende Geborgenheit zu kompensieren, so zeigt die Psychoanalyse, schlüpft das Kind selbst in eine illusionäre Elternrolle, um sich der unverlässlichen Lebenssituation nicht ständig schutzlos ausgeliefert zu sehen. Doch das ist natürlich nur ein eingebildeter Schutz, laut Richter ein “infantiler Größenwahn”, genährt von den vielen unbewältigten Ängsten. In Wahrheit erlebt das Kind eine ständige, krampfhafte Selbstüberforderung.

Der Westen verhalte sich ganz genau wie diese Kind: Die Verwaisung Europas begann mit der Aufklärung, als man sich von Gott als Vater der Menschheit verabschiedete. Den plötzlichen Wegfall des göttlichen Schutzes kompensierte der Westen mit dem Individuum und machte das Ich zum neuen Garanten eines modernen Sicherheitsgefühls. Die grandiose Selbstgewissheit des Ichs ersetzte nun die verlorene Geborgenheit in der göttlichen Vaterfigur. Aber all das sei natürlich auch nur eine Einbildung, sagt Richter, die für eine maßlose Überschätzung der eigenen Bedeutung und Möglichkeiten sorge. Das individuelle Ich schlüpfte in die Elternrolle, verwandelte sich zum eigenen Vater, zu Gott. Die alte Furcht aber, von Gott verlassen werden zu können, verwandelte sich jetzt zur neuen Angst vor dem Verlust dieser Selbstgewissheit, vor dem Ausfall der intellektuellen Beherrschung seiner Umwelt. 

Die lange Zeit gepriesene Aufklärung als Befreiung des mittelalterlichen Menschen zum modernen Menschen sei im Grunde nichts anderes gewesen als eine neurotische Flucht aus einer narzisstischen Ohnmacht in eine Illusion narzisstischer Allmacht: Hinter den Fassaden unserer scheinbar so imposanten, westlichen Zivilisationen finde er sich nämlich wieder, derselbe infantile Größenwahn, genährt aus tiefen, unbewältigten Ängsten. Doch die Angst, sich die verdrängte, kindliche Abhängigkeit einzugestehen, sei fatalerweise größer als die Angst, mit einem selbstmörderischen Größenwahn unterzugehen. Diesen Fluch des kollektiven Ohnmacht-Allmacht-Komplexes nennt Richter den ”Gotteskomplex”.  

Mit beeindruckender Genauigkeit grast sich Richter durch die Schreiber der Aufklärung mit ihren vielen Ideen: Vernunft, Freiheit und das Streben nach Wissen wurden hochgeschätzt. Doch Richter zeigt, dass diese Epoche nicht nur positive Impulse setzte, sondern eben auch den Grundstein für den Gotteskomplex legte. Der Fokus auf Rationalität und Fortschritt erzeugte eine Haltung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellte – oft als allmächtigen „Beherrscher“ der Welt. Aufklärer wie René Descartes betonten das Denken als höchsten Ausdruck menschlicher Existenz, was zu einem Weltbild führte, in dem nicht nur der Mensch das denkende Subjekt ist, sondern alles andere – Natur, Gesellschaft, sogar andere Menschen – beherrscht und kontrolliert werden darf. Die Trennung zwischen Geist und Materie verstärkte die Idee, dass der Mensch als rationales Wesen über der „irrationalen“ Natur steht. Später wurde diese Haltung durch den technischen Fortschritt und die Wissenschaft verstärkt. Francis Bacon etwa sah die Natur als etwas, das „enträtselt“ und „beherrscht“ werden müsse. Der Mensch wurde zum „Herrscher der Schöpfung“. Richter zeigt, wie dieser Fortschrittsoptimismus eine gefährliche Hybris hervorbrachte: Wenn man alles für wissenschaftlich erklärbar und technologisch machbar hält, werden Grenzen übersehen. 

Die scharfe Trennung zwischen dem Rationalen und Emotionalen kritisiert Richter übrigens besonders scharf, weil es zur Verherrlichung des männlichen und Verdämlichung des weiblichen Geschlechtes führte, zur Abwertung, Unterdrückung, Verlächerlichung der Frau durch den allzeit herrlichen, weil rational denkenden Mann, was traurigerweise sogar die deutsche Sprache seither beschämend illustriert.

Richter hinterfragt auch das Verständnis der ”Vernunft” in der Aufklärung: Was passiert, wenn diese Vernunft zur absoluten Instanz erhoben wird? Er warnt vor einer Überbewertung des Verstandes, die Empathie und Demut verdrängen kann. Die Aufklärung habe nicht nur zu Freiheit und Demokratie geführt, sondern legte auch die Grundlagen für Totalitarismus und technokratische Macht. Der Glaube an Gott sei durch den Glauben an die „perfekte Ordnung“ und die Rationalisierbarkeit aller Dinge ersetzt worden, was später in extremen Formen ausgelebt wurde, etwa in der Bürokratie moderner Staaten oder in totalitären Ideologien.

Wir begegnen viel seltener der Macht der Liebe als der Macht über die Liebe.

Horst-Eberhard Richter

Doch dieser Allmachtswahn, der bis heute unser Denken auf allen Instanzen beherrscht, eliminiert keinesfalls den Gotteskomplex. Das Kind bleibt nämlich schutzlos, ausgesetzt, ohnmächtig – allen Illusionen zum Trotz. “Wir sind überwiegend in einem so hohen Maße tief innerlich verzweifelt, dass wir darauf angewiesen sind, uns in oberflächliche Surrogatbefriedigungen zu flüchten”, analysiert Richter und erklärt Max Schelers Gesetz von der Surrogatbildung. Jugendliche nähmen öffentlich Drogen oder hingen Sekten oder “linksgefärbten Alternativgruppen” an. Doch er warnt davor, hochmütig und anklagend mit dem Finger auf sie zu zeigen, denn

“was [die Süchtigen] hemmunglos und in extremer Weise ausleben, macht … ein Großteil der angepassten Bürger nur geordneter, um einiges geduldiger und maßvoller: Nämlich die Selbstbetäubung zur Überdeckung einer trostlosen Ungeborgenheit und eines existentiellen Verlorenheitsgefühls.”

45 Jahre nach der Erstveröffentlichung ahnen wir, dass Richter mit seinen Analysen alles andere als falsch liegt – im Gegenteil. Heutige Phänomene wie Konsumrausch, Drogenmissbrauch, Pornokonsum, übertriebenes oder zwanghaftes Reisen u.v.m. entsprechen vollständig Schelers Gesetz von der Surrogatbildung. Aber auch Phänomene wie Trump, Brexit oder die generelle Polarisierung in unseren Gesellschaften sind im Grunde nur verzweifelte, immer aggressiver werdende Versuche, die Kontrolle zurückzugewinnen. Richters Lösungsvorschlag ist eine dringend notwendige Einsicht sowohl der eigenen als auch der gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen. Er nennt es das “Sympathieprinzip” und meint damit Sympathie für die Repräsentanten des gesellschaftlichen Leidens – also Drogenabhängige, Sektierer oder “linksgefärbte Alternativgruppen”. Heute könnte man Klimakleber oder psychisch ungesunde Jugendliche in die Liste aufnehmen, denn sie alle sind wie ein Lackmustest für gesellschaftliche Verdrängung. Sie müssen ernstgenommen und gehört werden, um sie in unsere Gesellschaft zu reintegrieren. Gelingt das nicht, zeigt man stattdessen mit dem Finger auf sie, versucht man sie als Bösewichter wegzusperren, wird die Verdrängung nur noch größer und in Folge produziert man – wenn auch unbewusst – noch mehr der Hexen und Teufel, zu deren inquisitorischer Verfolgung man eigentlich permanent aufruft.

Im Grunde sieht Richter das mittelalterliche Gottesbild als eine der Hauptursachen fur die sozialpsychologischen Merkmale der neueren, westlichen Zivilisationen. Als Nichttheologe gibt er hier auch keine Verbesserungsvorschläge. Doch es wäre nötig, heute lieber den menschgewordenen, mitleidenden, selbstaufopfernden Gott zu betonen, der sich insbesondere für Randgruppen interessiert und nichts für politische Macht übrig hat.

Für mich war die Lektüre dieses Buches wie der Schlüssel zu einem neuen Raum mit Fenstern, die ganz neue Perspektiven bieten. Und mit noch mehr Bücherregalen.

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marcusis@icloud.com

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