Anstelle des üblichen Weihnachtskitsch mit Sülz und Soße gebe ich heute – passend zur literarischen Reise, auf der ich mich befinde – lieber ein Porträt des Autors, Soziologen, Historikers, Philosophen und Theologen, der meiner Meinung nach besser als jede andere Person beschrieben hat, was die Fleischwerdung des Himmels im Westen des 20. Jahrhunderts konkret bedeutet.
Am Ende meines Theologiestudiums musste ich ein längeres, interkulturelles Praktikum machen, d.h. in einem anderen Land, auf einer anderen Sprache. Wir zogen nach Schottland und wurden Teil einer Gemeinde, die völlig anders war, als alle Kirchen und Gemeinden, die ich bis dahin getroffen hatte. Tief theologisch, doch jeder Gottesdienst war ein Fest mit Buffet, Essen, Trinken, Musik und Wein. Man saß an Tischen und diskutierte die Predigt, manchmal direkt mit dem Prediger, der dazu extra Pausen einlegte. Man traf sich zur “Kneipentheologie” im Pub und diskutierte mit allen, die wollten, bei einem Pint und einer Zigarre, was Versöhnung denn wohl heute noch bedeute. Und vieles mehr von dieser Sorte. Pastor Wesley, der auch mein Mentor während des Praktikums war, nahm mich gleich am Anfang schon beiseite und sagte: “Marcus, wenn du lernen willst, wie man Gemeinde heute ganz anders denken und gestalten kann, dann solltest du diese Bücher lesen!” Damit gab er mir eine Leseliste, die ich während des Praktikums lesen und mit ihm und seinem Team diskutieren sollte. Ganz oben auf der Liste stand: Jacques Ellul: The Subversion of Christianity.
In diesem Buch zieht Ellul eine Bilanz des christlichen Glaubens und untersucht die Praktiken der Kirche im Laufe der Geschichte. Sein Urteil ist, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft. Der christliche Glaube, der ursprünglich (seiner Meinung nach) eine radikale Bewegung für Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit war, sei entstellt worden und habe sein ursprüngliches Ziel verloren.
In seinem Buch verwendet Ellul die Worte „die Unterwanderung (subversion) des Christentums“ und „die Perversion des Christentums“ regelmäßig als Synonyme. Denn die Kirche sei selbst Teil der Strukturen geworden, die sie einst in Frage stellen sollte. Statt diesen Auftrag zu erfüllen habe sie sich für historische Kompromisse entschieden und paktiere mit Macht und Politik.
Ellul kritisiert, dass die Kirche Macht benutzt, um Unterdrückung und Gewalt zu rechtfertigen, und fordert eine Rückkehr zu der subversiven Liebe und Freiheit, die Jesus verkündet hat. Das war also meine erste Begegnung mit Ellul im Jahr 2005.
Doch wer war Jacques Ellul eigentlich?
Von sich selbst sagte er, es sei reiner Zufall gewesen, dass er am 6. Januar 1912 in Bordeaux geboren wurde, aber seine freie Entscheidung, dort ein Leben lang zu bleiben. Er studierte Rechtsgeschichte und Soziologie und promovierte im römischen Recht (was in seinen Schriften immer wieder durchscheint).
In seinem früheren Leben war er der katholischen Kirche verbunden, aber nach einer Vision Gottes im August 1930, die er nie näher beschreiben wollte, die aber für ihn eine Art Bekehrungserlebnis gewesen sein muss, wurde er Mitglied der französisch-reformierten Kirche.
Er stellte fest, dass es Christen gab, die ihre ganze Energie in die Evangelisation und die Bibel steckten, und andere, die ihre ganze Energie in politisches Engagement steckten. Er selbst konnte mit beidem nicht viel anfangen. Und vielleicht ist das schon ein Hinweis darauf, dass er eigentlich in keine Schublade passt. Oft ist er auf der Suche nach etwas anderem, nach einer adäquateren Lösung, nach etwas Besserem als dem Bestehenden.
Als Deutschland Frankreich besetzt, schließt er sich der Résistance an. Er ist absolut für den Widerstand, aber ebenso absolut gegen Gewalt. Ellul hilft Juden bei der Flucht aus Frankreich in die Schweiz und riskiert dabei manchmal sein eigenes Leben. Während des Krieges studiert er sogar Theologie, beendet sein Studium aber nie.
Marx war eine Person, die ihn inspirierte, auch wenn er dessen Analysen für sehr veraltet hielt. Theologisch ließ er sich von Kierkegaard und Barth inspirieren und vom „unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit“, was seine Suche nach mehr und seine Unzufriedenheit mit der säkularen Kirche erklären mag, die sich seiner Meinung nach oft zu leicht mit weltlichen Vergnügungen zufrieden gibt.
Er schrieb mehr als 60 Bücher und über 1000 Artikel und Buchkapitel. Am 19. Mai 1994 ging er nach langer Krankheit in die Ewigkeit ein.
Dies ist eines seiner bekanntesten Werke, das in meinem kurzen Überblick nur als Beispiel für seine Denkweise dienen soll.
„Die technologische Gesellschaft“ ist eine tiefgreifende Kritik an der Art und Weise, wie die Technologie die moderne Gesellschaft und das menschliche Leben beherrscht. Ellul beschreibt die Technologie als ein autonomes, von Effizienz und Produktivität getriebenes System, das die Gesellschaft entmenschlicht und die individuelle Freiheit einschränkt. Die Technologie beeinflusst zunehmend unsere Art zu denken, zu handeln und miteinander umzugehen. Ellul warnt davor, dass die technologische Gesellschaft Gefahr läuft, ihre Menschlichkeit zu verlieren, wenn die Technologie nicht hinterfragt und kontrolliert wird.
Dies ist nur eine sehr kurze Zusammenfassung des Buches. Interessant ist jedoch, dass er die Technologie als Macht betrachtet. Eine Macht, die den Menschen beherrscht.
So wie der Mammon eine Macht ist, vor der Jesus warnt, und zwar laut und deutlich. Auch der Staat sei eine Macht, die nur über Menschen herrschen will. In dem oben erwähnten Buch „The Subversion of Christianity” (Die Unterwanderung des Christentums) gibt es ein Kapitel mit dem Titel „Political Perversion” (Politische Perversion), in dem er sagt, dass politische Macht ein Götze ist – und wir sollen schließlich keinen Götzen dienen. Aus diesem Grund wird Ellul manchmal als „christlicher Anarchist“ bezeichnet.
Auch die Propaganda ist eine Macht, vor der er warnt. Denn Propaganda sei nur ein weiteres Instrument, um Menschen zu kontrollieren. Propaganda gehe oft Hand in Hand mit großen Ideologien, die vorschreiben, was zu tun und zu lassen ist. Er sieht diese Kräfte als geistliche Realitäten, denen wir ausgesetzt sind, denen es zu widerstehen gilt. Für ihn ist es deshalb so wichtig, dass Kirche, dass Jesusnachfolger eben nicht das tun, was alle anderen tun. Ganz anders zu sein, ist „für die Kirche lebenswichtig“, sagt Ellul.
Ellul steht daher allumfassenden Erklärungsmodellen und theoretischen Systemen sehr kritisch gegenüber. Alle Erklärungsmodelle müssen ständig überprüft werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sie einen quasi-religiösen Status bekommen und man im schlimmsten Fall beginnt, für sie zu kämpfen. Der Kirche, wie sie die meisten Menschen kennen, steht er äußerst kritisch gegenüber. Er sagt, die Kirche sei entchristlicht worden, und das habe schon im 3. Jahrhundert begonnen, als die Kirche den Kaiserkult in einen christlichen Kult umgewandelt habe, als die Kirche Glaubensvorstellungen, heidnische Mythen und Bräuche übernommen habe, die der Frohen Botschaft völlig fremd waren. Aber die Kirche erkannte damals nicht und erkennt auch heute nicht, dass diese Entscheidungen die Offenbarung Gottes in Christus zerstört haben. Die Kirche soll der Gegenpol zur Welt sein und NICHT Teil des zerstörerischen Machtsystems der Welt werden.
Die Kirche soll den “gänzlich Anderen” predigen und verkörpern. Die Kirche soll nicht selbst irgendetwas vollbringen – die Kirche soll in der Welt nur das vergegenwärtigen, was in der Welt bereits vollbracht ist.
Ellul war sich der Bedeutung der Schöpfung bewusst und wurde zu einem der ersten Umweltschützer Frankreichs. Er stellte viele zerstörerische Mechanismen in Frage, die das Wirtschaftswachstum auf Kosten der Ressourcen der Erde steuern. 1981 schrieb er im Vorwort zur ersten schwedischen Ausgabe seines Buches „Gegenwart in der Moderne“ sehr selbstkritisch, dass er die Mechanismen der Umweltzerstörung hätte berücksichtigen sollen, als er das Buch 1948(!) schrieb. Ich finde es faszinierend, dass Ellul uns im selben Buch an die Sünde des Kollektivs erinnert – etwas, das wir in unserer rein individualistischen Version des Evangeliums völlig vergessen haben. Denn wir sind gezwungen, uns an einem sündigen System zu beteiligen, und jeder von uns trägt die Folgen der Fehler der anderen. Deshalb, so Ellul, reicht es nicht aus, sich auf das individuelle Heil und auf individuelle moralische Tugenden zu konzentrieren, denn wir haben es nicht mehr mit individuellen Sünden zu tun, sondern mit der Sünde der Menschheit. Auch wir tragen Verantwortung für die Sünden früherer Generationen – bis zurück zum Sündenfall.
Und mit diesen Gedanken Elluls, die oft in den Kriegen des 20. Jahrhunderts wurzeln, ist er im Grunde auf dem gleichen Weg wie wir heute bei der Umweltzerstörung, wo auch ich die Bedeutung der kollektiven Buße hervorheben möchte.
Vielleicht mag ich ihn zu sehr, um seine Schwächen zu sehen. Vielleicht ist das Einzige, was ich als Schwäche sehe, dass er in seinen Schlussfolgerungen und Herausforderungen so weit von der Norm abweicht, dass er von gewöhnlichen Gemeindemitgliedern nicht immer verstanden wird. Schließlich sind Kierkegaard und Barth seine philosophischen und theologischen Eltern. Und er versucht, ihre Ideen auf das zwanzigste Jahrhundert anzuwenden. Das mag etwas zu viel des „ganz Anderen“ sein, um ihn zu verstehen. Andererseits gilt er auch als der Mann, der (fast) alles vorausgesehen hat. Das bedeutet, dass seine Ideen vielleicht erst jetzt, im einundzwanzigsten Jahrhundert, zum Tragen kommen.
Hier sind z.B. zwei in Schweden relativ neu herausgegebene (bzw. wiederherausgegebene) Bücher: Gegen die Gewalt und Gegenwart in der Moderne.
Hier ein Artikel der neuesten Ausgabe der Zeitschrift “Nod”, wo Ellul mit Reinhold Niebuhr verglichen wird.
Ich würde mir wirklich wünschen, dass Ellul weltweit viel mehr Pastoren so wie Pastor Wesley in Schottland zum praktischen Umdenken inspirieren würde. Dann wäre Kirche weniger Religion, sondern etwas ganz Anderes. Schließlich sollen wir ja den gänzlich Anderen in dieser Welt vergegenwärtigen.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten 2024.