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Jahresrückblick, Jahresausblick, Analysen. Wörter des Jahres. Gesetzesänderungen. Alle Jahre wieder. Wird wirklich alles schlechter, also teurer, komplizierter, dunkler? Christen würden hinzufügen: “Sündiger”? Ich würde sagen, nein, wird es nicht zwangsläufig. Wir haben uns nur selber in die Falle gelockt. Wie ein Hund mit einem fetten Knochen im Maul, der sein Spiegelbild im See sieht und aus Gier verliert, was er schon hat. Wir hatten schon immer das Problem, unser Problem zuzugeben.


Merkwürdig, wie das manchmal läuft. Unabhängig voneinander fanden sich drei Bücher völlig verschiedener Autoren auf meinem Tisch, keiner von ihnen besonders religiös, doch alle befassen sich auf ihre Weise mit der Vergöttlichung des Menschen – und der damit verbundenen Überforderung. Parallel zu Richters Gotteskomplex las ich auch in Yuval Noah Hararis Homo Deus: Eine Geschichte von morgen und Hartmut Rosas Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung.

An Hararis Werk ist eigentlich nur noch der erste Teil des Titels interessant: Homo Deus, Mensch-Gott. Und natürlich seine Art zu schreiben, eine Mischung aus guten Geschichtskenntnissen, interessanten Beobachtungen und unterhaltsamen Formulierungen. Ansonsten merkt man dem Buch an, dass es 2015 erschien, prä-Trump, -Brexit, -Pandemie. Als die meisten von uns noch in ahnungsloser Naivität lebten, unwissend, was in naher Zukunft alles schief gehen könnte im Puppenhaus des schicken Lebens. Als das größte Problem in den Nachrichten noch diese lästigen Boote auf dem Mittelmeer waren. Als wir noch nicht riechen konnten, wieviel Dynamit in Mundschützen stecken kann. Harari kann daher noch selbstbewusst den Untergang der Sowjetunion feiern, sogar mit Foto der historischen Vertragsunterzeichnung, und behauptet siegesgewiss, dass es in Zukunft keine Kriege mehr geben werde, weil einfach kein Bedarf mehr dazu da sei. Ja, genau. Ich glaube, er hat es später selber eingesehen.

Erwähnenswert ist trotzdem, wie sehr Harari an die Genialität des Menschen glaubt. Seine Zukunft ist eine technologische. So sehr, dass es sich schon ins Transhumanistische streckt. Man könne mittels Wissenschaft und Forschung sogar den Tod besiegen, meint er. Doch all das macht die Zukunftsgesellschaft keineswegs menschlicher, im Gegenteil, es bestehe die Gefahr, dass der Mensch-Gott die Kontrolle über seine Konstruktionen verliere. Ich finde trotzdem, dass Hararis Beschreibungen aus 2015 an den ebenso weltfremden Optimismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts erinnern. Auch damals hielt sich der Mensch für unbesiegbar. Elektrizität, Röntgenstrahlen, alle diese wissenschaftlichen Entdeckungen, göttlich! Fotoapparate, Autos, all diese neuen Erfindungen, berauschend! Bis 1914 das böse Erwachen kam. Heute, am vorletzten Tag des Jahres 2024 wissen wir immer noch nicht genau, ob der Dritte Weltkrieg vielleicht nicht schon längst begonnen hat. Es wäre ja nicht auszuschießen. Die Geschichte wird es uns zu einem späteren Zeitpunkt enthüllen. Dabei bräuchten wir dieses Mal eigentlich gar keinen Dritten Weltkrieg zum Erwachen aus unseren Hundeträumen von noch dickeren Knochen. Denn auch ohne Krieg füttern wir den schon längst geschlechtsreif gewordenen Drachen weiter. Auch im Frieden spuckt er donnernd immer öfter, immer mehr Feuer. Sein Name: Schöpfungsverseuchung.

Doch wir sind heute keine Siegfrieds mehr, die sich so todesmutig wie siegesgewiss in die Höhle des Drachens wagen, um später in seinem Blut zu baden. Einen solchen Kampf hat heut keiner mehr im Vertrag. Ungleich Siegfried muss man heute erstmal mit seinem Therapeuten sprechen, ob das Nervenkostüm den Gang in die Höhle überhaupt mitmacht oder man nicht besser einfach nur chillen sollte. Genau darüber schreibt Hartmut Rosa: Über die von den Mechanismen der Spätmoderne völlig plattgefahrene menschliche Seele, deren Heldendasein-Level manchmal schon mit dem morgendlichen Aufstehen überstiegen wird. Wir fühlen uns ständig überfordert und glauben daher, alles würde immer schlechter.

Seit Jahrzehnten nutzen unsere eigenen Technologien uns immer mehr aus. Wir entwickeln immer schnellere Technik, in Folge beschleunigt sich unser ganzes Leben. Die Computer werden immer stärker, also steigt auch der Leistungsdruck auf uns. Wir fühlen uns immer mehr instrumentalisiert, immer mehr kontrolliert. Und weil die technische Entwicklungskurve exponentiell zu laufen scheint, kommen wir irgendwann nicht mehr mit. Uns wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Rosa gebraucht genau solche Bilder wie unsere Füße, mit denen wir buchstäblich im Leben stehen. Sie sind der ständige Kontaktpunkt mit der Welt, in der wir leben – dennoch wir fühlen uns immer mehr entfremdet. Wir spüren keine Beziehung mehr zu dieser Welt, erleben Einsamkeit, Sinnlosigkeit. Das ist das moderne Lebensgefühl. Je mehr Menschen das erleben, desto schwächer die Gesellschaft.

Hartmut Rosas Buch Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung untersucht, wie moderne Menschen ihre Beziehung zur Welt erleben. Rosa argumentiert, dass unser Leben zunehmend von Beschleunigung, Leistungsdruck und instrumenteller Kontrolle geprägt ist, was zu Entfremdung führt. Demgegenüber stellt er das Konzept der Resonanz vor – ein Zustand, in dem Menschen eine lebendige, wechselseitige Verbindung zur Welt spüren.

Er beschreibt Resonanz als eine grundlegende Dimension menschlicher Existenz, die in sozialen Beziehungen, Naturerfahrungen, Kunst oder Religion erlebt werden kann. Resonanz entsteht durch Offenheit, wechselseitiges Antworten und das Gefühl, berührt zu werden, statt die Welt nur zu kontrollieren oder zu instrumentalisieren. Rosa zeigt auf, wie moderne Gesellschaftsstrukturen Resonanzräume zerstören, und ruft dazu auf, diese Räume bewusst zu schützen und zu fördern.

Das Buch verbindet soziologische Analyse mit philosophischen und psychologischen Einsichten und bietet einen Gegenentwurf zu entfremdenden Tendenzen der Spätmoderne. Ich persönlich finde, Gemeinde sollte ein Ort der Resonanz sein. Nicht nur wegen des Gesangs, obwohl Rosa Chorgesang als etwas besonders Wertvolles darstellt, weil gerade dort Resonanz in musikalischer Harmonie mit seinen Mitmenschen erfahren wird. Gemeinde ist Gemeinschaft, denn wer einsam ist, ist verloren. Gemeinde ist Liebe, Gemeinde ist Sinn, Gemeinde ist göttlich. Gemeinde ist echt, so simpel wie Wasser doch ebenso erfrischend, anmachend, reinigend. Hier darf man sein, hier darf man sich ins Mysterium des Lebens versenken und Heilung erfahren. Nicht umsonst ist die Taufe der Eingang in die Gemeinde. Gemeinde ist Medizin gegen den Tod, weil sie unsterblich ist. Gemeinde ist die Soziologie der Himmelsbeziehung, weil sie die Neue Schöpfung verkörpert, und damit ist sie der Kontrast zur Weltbeziehung zur alten Welt.

Ich wünsche euch allen eine solch beschwingte Gemeinde 2025. Ohne solche Resonanzfrequenzen könnte man dem Irrglauben erliegen, alles würde immer schlechter.

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