Durch den Umzug ins Ausland, den Gründungsaktivismus neuer Gemeinden, die Arbeit mit internationalen Gemeinschaften habe ich viel gelernt. Mehr, als ich mir je hätte vorstellen können. Doch ich kam auch an meine Grenzen, immer wieder. An eine dieser Grenzen stieß ich besonders häufig: Die meines Denkens.
Trotz eines im Ausland umgestülpten Alltages, aller Lehren und Lektionen, trotz Weltoffenheit und neuen Sprachen, Kulturen, Menschen blieb mein Denken dennoch irgendwie begrenzt. Es dauerte, das einzusehen. Doch selbst, als es zu dämmern begann, verstand ich immer noch nicht wirklich, warum das so ist.
Mein Glaube an Gott hingegen, der ja auch immer größer als das eigene Verstehen ist, half mir deshalb. Ich bat um Hilfe. Die Antwort wurde ein Bücherpfad. Eine literarische Wanderung auf historisch-steinigen Wegen.
Die nächste Etappe war:
Samuel P. Huntington: “The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order“
Deutsche Ausgabe: “Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert” (1998: btb -Verlag)
Was mir an diesem Buch sofort gefiel, war der gediegene erste Eindruck: Hier hält man gefühlt ein wichtiges Stück Literatur in der Hand – die Farbe, das Gewicht, der solide Leineneinband, das feine Papier, der Geruch – alles macht Lust auf’s Lesen und Lernen. Ja, auch dieses Buch lese ich auf schwedisch. Das erleichtert meine Kommunikation hier im Land.
Samuel P. Huntington
(1927-2008) war US-amerikanischer Politikwissenschaftler, Autor und Professor für Strategic Studies an der Harvard Universität. 1977 -78 war er im Sicherheitsrat des Weißen Hauses tätig. Huntington befasste sich viel mit militärischer Ethik und dem historischen Wandel der Beziehungen zwischen Militär und Zivilgesellschaften.
Huntingtons Werk war umstritten nach seiner Veröffentlichung 1996. Nicht jeder wollte seinen unbequemen Behauptungen Glauben schenken. Heute hingegen entdecken Verleger vieler Länder, wie richtig er lag und legen sein Buch neu auf. Heute gilt es als Klassiker auf seinem Gebiet.
In der deutschen Übersetzung klingt der Titel merkwürdig; doch Huntington schreibt, dass im deutschen Sprachgebrauch kein großer Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation gemacht werde. In anderen Sprachen sei Kultur etwas lokales, oft geographisch auf die Landesgrenzen begrenzt. Eine Zivilisation sei hingegen die Zusammenfassung mehrerer ähnlicher Kulturkreise. Auf dem folgenden Foto aus meiner (schwedischen) Ausgabe sieht man, wie er die Zivilisationen der Welt nach 1990 zusammenfasst. (Eine deutsche Version der Karte kann man auf der entsprechenden Wikipedia-Seite finden.)
Das Buch versucht, die globale Lage nach Ende des Kalten Krieges zu analysieren und mögliche Entwicklungen zu identifizieren, die deswegen im 21. Jahrhundert zu erwarten seien. Die Titelbegriffe „Clash“ oder „Kampf“ gehen nicht automatisch von kriegerischen Konflikten aus, sondern meinen das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Weltbilder und Wertesysteme – und zwar in Konkurrenz um die Vorherrschaft. Dass das nicht reibungsfrei läuft und unter Umständen auch zu den Waffen gegriffen werden wird, ist natürlich nicht auszuschließen, aber nicht wirklich Huntingtons Ausgangspunkt. Er erklärt die von ihm identifizierten Zivilisationen der Welt, was sie historisch geprägt hat und wie sie sich zueinander verhalten.
Besonders geht er der Frage nach, ob früher oder später alle Welt eher westlich sein und denken wird. Eine Annahme, die in den 1990-er Jahren nicht unüblich war, als McDonalds oder IKEA sich plötzlich im ehemaligen Ostblock ausbreiten konnten, wie ich mich noch sehr gut erinnere. Und siehe da: Unterbewusst bin auch ich irgendwie davon ausgegangen, dass es so kommen wird – alle Welt wird irgendwann so werden, wie wir es heute schon sind, weil wir so toll sind und natürlich alle so toll sein wollen wie wir. Unterbewusst ist selbst die internationale Missionsarbeit seit dem 18. Jahrhundert nicht immer so einfach von der Verwestlichung der Welt zu unterscheiden gewesen. Das sind einige wichtige Selbsterkenntnisse, die ich vom Buch mitnehme.
Huntington erinnert daran, dass die Kolonialisierung alles andere als zivilisiert verlaufen ist. Es war eine militärisch erzwungene Ausbeutung anderer Länder, die sich einfach nicht wehren konnten. Der Westen mag das vergessen wollen, doch die anderen erinnern sich nach wie vor sehr gut. Das mag der Hauptgrund sein, warum der Rest der Welt manchmal etwas genervt auf die westliche Forderung nach Einhaltung der “Menschenrechte” reagiert. Man mag gar nicht gegen diese Menschenrechte an sich sein. Aber dass der Westen erst brutal in anderen Ländern herumwütet, um später heuchlerisch auf die Einhaltung seine eigenen (christlichen?) “Werte” zu bestehen, kommt nicht immer gut an. Huntington zitiert z.B. die vom Westen gelobte, marokkanisch-islamische Frauenrechtlerin Fatima Mernissi. Passenderweise fand ich gleichzeitig eins ihrer wichtigsten Bücher im Antiquariat, “Islam and Democracy“. Was sie dort über westliche Demokratien zu sagen hat, klingt nicht gerade löblich. Die Welt sei traumatisiert vom kolonialen Terror, denn der westliche Individualismus sei die Quelle aller Probleme, so Mernissi.
Huntington stellt auch das persische Schimpfwort gharbzadegi vor. Es bedeutet so viel wie Westvergiftung oder Euromani. In anderen Erdteilen legt man eben sehr viel mehr Wert auf Gemeinschaft, Glaube und Moral. Wegen der Säkularisierung sei aber genau das im Westen nur noch schwer zu finden. Verbunden mit den Traumas der Geschichte werde sich eine zunehmende Anti-Westhaltung heranbilden, analysierte Huntington 1996.
Für mich sind das wirklich relevante Einsichten. Komme ich nämlich heute als Deutscher oder Schwede daher und behaupte, auch im Glauben die alleinige Wahrheit zu predigen, hacke ich damit vielleicht in dieselbe Kerbe der kulturellen Überlegenheit. So mache ich mich selbst schnell zum Heuchler und schlage damit mehr Türen zu als ich je wieder öffnen könnte. Es gilt also, klug und mit Bedacht vorzugehen.
Huntington wurde übrigens kritisiert, er würde sich die Komplexität einer globalen Welt viel zu simpel machen. Ich halte das für einen ziemlich dummen Kommentar und behaupte das Gegenteil. Huntington hat mir geholfen, meine eigene Naivität einzusehen in einer Welt, die gerade sehr viel komplizierter ist, als ich es mit meiner westlichen Prägung und Brille erkennen konnte.
Einige Zitate und Einsichten, die mir gefallen
Der Term “la guerra fría” (der kalte Krieg) wurde im 13. Jahrhundert von den Spaniern geprägt, um deren konfliktvolles Miteinander mit den Muslimen zu beschreiben.
Der Westen hat die Welt erobert – nicht durch überlegene Ideen, Werte oder eine Religion (zu der nur wenige Angehörige anderer Zivilisationen sich bekehrten), sondern durch seine Überlegenheit bei der Ausübung organisierter Gewalt. Das ist eine Tatsache, die der Westen oft vergisst – die Nicht-Westler vergessen sie nie.
Auf einer grundlegenden Ebene wird unsere Welt immer moderner und immer weniger verwestlicht.
Die verheerendsten Kontraktionen in der Zukunft werden wahrscheinlich aus einer Mischung aus westlicher Arroganz, islamischer Intoleranz und chinesischem Durchsetzungsvermögen resultieren.
Das grundlegende Problem des Westens ist nicht der islamische Fundamentalismus. Es ist der Islam, eine andere Zivilisation, deren Menschen von ihrer kulturellen Überlegenheit überzeugt und von ihrer Ohnmacht besessen sind. Das Problem des Islam ist nicht die CIA oder das US-Verteidigungsministerium, sondern der Westen, eine andere Zivilisation, deren Menschen davon überzeugt sind, dass ihre Kultur universell ist, und die glauben, dass ihre überlegene, wenn auch geschwächte Macht ihnen das Mandat gibt, ihre Kultur in der ganzen Welt zu verbreiten. Dies sind die Hauptbestandteile des Konflikts zwischen dem Islam und dem Westen.