Ich war mir nicht sicher, ob ich dieses Buch auf die öffentliche Liste meiner Lesereise setzen sollte. Es war nicht meine erste Wahl; ist weder ein christliches Werk noch in Europa besonders verbreitet. Ich habe es nur in meine Bibliothek aufgenommen, weil es aus derselben Reihe stammt wie Huntingtons ”Zivilisationen”. Kombiniert mit der gleichen hohen Qualität des Buchexemplars ließ es auf einen ebenso hohen literarischen Wert hoffen. Der Untertitel ”Geschichte für Entscheidungsträger” gab den Ausschlag für den Kauf. Meine Jahre als Europadirektor waren wie ein kleines Schnupperpraktikum in internationalem Denken und Führen. Aber als sich am Ende herausstellte, dass ich doch lieber weise als staatsmännisch sein wollte, und das bedeutete, dass ER größer und ich kleiner werden musste, habe ich das Weltmännische wieder an den Nagel gehängt. Aber die Erfahrung und viele Fragen sind geblieben. Heute weiß ich, dass große Entscheidungen immer nur so gut sind wie ihre Vorbereitung, und je mehr sie die Zukunft beeinflussen, desto tiefer und fester müssen sie in der Geschichte verwurzelt sein. Deshalb hat mich der Titel ”Rechtzeitig denken” angesprochen.
Die Autoren
Ernest R. May (1928-2009)
war ein preisgekrönter Schriftsteller und Historiker, der sich auf internationale Beziehungen und insbesondere die amerikanische Außenpolitik spezialisierte. Er lehrte 55 Jahre lang bis zu seinem Tod an der Harvard University und unterrichtete auch an der John F. Kennedy School of Government.
Richard M. Neustadt (2019-2003)
war ein preisgekrönter Autor, Politikwissenschaftler und Historiker, der drei Jahrzehnte lang als Berater der US-Präsidenten tätig war. Er war Mitbegründer der John F. Kennedy School of Government, an der er mehr als 20 Jahre lehrte.
Die beiden Autoren stellen in ihrem Buch zahlreiche Fälle vor, in denen amerikanische Präsidenten wichtige und weitreichende Entscheidungen treffen mussten. Anhand von Protokollen und anderen verlässlichen Dokumenten analysieren sie, wie und warum diese Entscheidungen letztendlich getroffen wurden. Sie geben dem Leser einige einfache Werkzeuge an die Hand, um selbst gute und vernünftige Entscheidungen treffen zu können, wenn es darauf ankommt. Die erste lautet: ”Innehalten! Hinsehen! Hinhören!” Nicht einfach weitermachen, sondern sich ein Bild von der Situation machen. Das zweite ist, möglichst genau zu erkennen, was bekannt ist, was unklar ist und was vermutet wird. Nur wer diese drei genau unterscheiden kann, wird sich der möglichen Risiken der Entscheidung bewusst. Das dritte ist der Vergleich der aktuellen Situation mit historisch vergleichbaren Situationen, wobei genau zwischen Ähnlichkeiten und Unterschieden der Situationen zu unterscheiden ist. Alle drei Sätze müssen ständig und immer wieder angewandt werden. Und genau daran scheitert es in der Regel, wie viele (aber nicht alle!) Fälle in diesem Buch zeigen.
Allzu oft werden beispielsweise Annahmen mit Fakten verwechselt. Oder man sieht die Ähnlichkeiten, aber nicht die Unterschiede. Weil man sich nicht die Zeit nimmt, innezuhalten, hinzuschauen und zuzuhören. Die Folge sind oft genug Entscheidungen mit katastrophalen Folgen, die relativ einfach hätten vermieden werden können. Der Vietnamkrieg ist so ein Beispiel.
Für mich ist dieses Buch lehrreich, weil man einfach historisch dokumentierte Einblicke in ehemals streng geheime Sitzungen und Vorgänge bekommt, die einem normalerweise verborgen bleiben. Vor allem aber ist es eine anschauliche Bestätigung für die Richtigkeit meiner Annahme, dass der Mensch viel zu oft unkluge, um nicht zu sagen dumme Entscheidungen trifft, weil man sich nicht die Zeit nimmt, alles zu betrachten und zu durchdenken. Vieles wird aus dem Unterbewusstsein heraus gesteuert und man wundert sich dann, warum es schief gegangen ist. Und das auch auf höchster politischer Ebene. Auch dort menschelt es gewaltig. Das Buch ist für mich ein Wegweiser, dass ich mich auf meiner Lesewanderung in die richtige Richtung bewege.