Über die Einseitigkeit meines bisherigen Bibelstudiums.
Vor einiger Zeit hatten wir Gäste daheim und aßen zusammen. Das Gespräch drehte sich um alle möglichen Themen. Plötzlich wurde ich gefragt: “Haben deine Wochentage eine Farbe?” Ich stutzte, überlegte kurz über diese merkwürdige Frage und sagte schließlich: “Natürlich haben sie das!” Plötzlich wurden alle ganz aufgeregt und wollten es genau wissen. “Ja, also gut: Montage sind natürlich schwarz. Und Dienstage gelb. Mittwoche blau und Donnerstage dunkelrosa, Freitage violett, logisch. Samstage sind schwarz und Sonntage orange. Warum fragt ihr das?” Die Frage nach Wochentagsfarben klang für mich genauso absurd wie “Welche Farbe hat Blut? Schnee? Der Himmel?” Donnerstage sind doch wohl alle dunkelrosa, oder etwa nicht? Schon immer gewesen! Es stellte sich heraus, dass viel mehr in meinem Denken aus Farben und Formen besteht. Die Zahlen von 1-90 entwickeln sich zum Beispiel entlang einer ganz bestimmten Linie mit gewissen Farbabschnitten, ähnlich einer Achterbahn. Ich zähle und rechne sozusagen visuell.
Von daher erklärt es sich auch, warum jene Bücher, die ich nicht nur gelesen, sondern durchgearbeitet habe, hinterher wie eine Malerpalette aussehen. Beim Lernen und Studieren bekommen Farben eine ganz besondere Bedeutung.
Das gilt auch dem Buch der Bücher. Es gibt zwar unterschiedliche Ansichten darüber, ob man in seine Bibel schreiben oder gar zeichnen (!) darf, aber für mich wäre so ein Bibelmalverbot genauso lächerlich wie ein Wasserverbot in der Dusche. Ich schreibe und male zwar längst nicht in jeder Bibel herum, das wäre beim Arbeiten auf drei Sprachen gar nicht möglich (und muss auch dazu sagen, dass ich beim Bibelgespräch mit Muslimen grundsätzlich nur jungfräuliche Bibeln benutze), aber meine ganz persönliche Lutherbibel 84, mit alter Rechtschreibung und selbstgenähtem Ledereinband wird nach dem Aufschlagen zum reinsten Farbfernseher.
Der Witz an der Sache ist unter anderem, dass Farben eben nicht nur Farben sind, sondern auch Bedeutung haben. Und so fiel mir über die Jahre auf, dass wir in Gemeinden eigentlich immer nur die gelben, roten, grünen und blauen Texte lesen und predigen. Man denke nur mal an die heute allseits beliebte Bibel-App. Hat dort je schon mal jemand einen violetten Vers des Tages gehabt?! Ja genau, da sehen wir es, ich nämlich auch nicht (außer aus Versehen vielleicht, wenn man wegen der unterschiedlichen Verszählung in englischen Psalmen mal wieder um einen Vers verrutscht ist).
Violett ist die Farbe des unbequemen Leidens, des Nichtverstehens. Nehmen wir mal den beliebten Psalm 139 als Beispiel. Die Verse 19-22 sind typisch violette Aussagen, die selten mitgelesen, kaum gepredigt werden.
Wenn man eine farbige Bibel hat, dann sieht man auf den ersten Blick, wie lila dieses Buch ist. Selbst der Lobpreisteil der Bibel, auch als Psalter bekannt. Da fragt man sich dann schon manchmal, warum wir Christen eigentlich so schlecht auf die violetten Zeiten des Lebens vorbereitet werden, schließlich wird das Violette zusammengelegt deutlich länger als die Summe aller (Kar-) Freitage eines Lebens. Im heute modern-gelben Lobpreis ist oft jedoch nur eitel güldner Sonnenschein zu finden, Gott ist immer “great” und “awesome”, selbst wenn man gerade im dicksten Dreck steckt. Bislang hat man sich immer selbst die Schuld dafür in die Schuhe schieben können, “das bin halt wieder mal nur ich, dem das Wasser gerade bis zum Halse steht und dessen Gebete schon wieder nicht erhört werden, alle anderen schmettern ja aus vollem Halse, wie gut Gott zu ihnen ist.”
Aber was, wenn alle plötzlich ziemlich lila drauf sind? Sagen wir mal, eine Pandemie käme um die Ecke und wollte uns einfach nicht mehr verlassen. Dann würde uns wohl auffallen, dass wir die Bibel nie so ganz ernstgenommen haben. Ich jedenfalls merke auch ohne Pandemie schon länger, dass ich – man glaubt es kaum – einen akademischen Master im einseitigen Bibelstudium mit besonderem Fokus auf das Blaue, das Praktische habe. Es waren aber keine Professoren, keine Buchautoren, die mich jetzt darauf aufmerksam gemacht haben. Es waren billige Buntstifte, wie sie jedes Kind benutzt.
Plötzlich fällt mir auf, dass wir es…, hm, wie soll ich es sagen…, verlernt haben? Oder nie gelernt haben? Jedenfalls sind wir alle irgendwie völlig inkompetent, wie reife Christen zu klagen. Entweder klagen wir gar nicht und tun so, als wäre alles im Griff, oder wir quieken herum wie die unschuldigen Ferkel, oder wir werden aggressiv. Klagen aber ist ein wichtiger Teil der Bibel und der Seelenhygiene. Eine gute Klage ist eine Art Protest. Man protestiert gegen das, was nicht richtig ist, lernt, zu formulieren und auszusprechen, was nicht passt. Das erleichtert die Seele ein wenig, vorausgesetzt natürlich, man sendet seinen Protest an die richtige Adresse – sonst geht der Schuss womöglich nach hinten los.
Und die absolut richtige Adresse finden wir in genau jenen violetten Teilen der Bibel, die wir nie so wirklich lesen, gerne aussparen und auch sonst kaum predigen. Aber genau dort steht sie, und zwar immer und immer wieder, nicht nur im violettesten aller Bibelverse: “Mein Gott, mein Gott warum…!” Deshalb habe ich mich gestern entschieden, mal meine eigene Demo zu machen und gegen all das ganze Zeug zu demonstrieren, was mich gerade so nervt und frustriert. Ich habe sogar ein Protestschild gemalt. Den Inhalt dazu fand ich in den ersten und zweifellos sehr violetten Versen aus Psalm 10 und Psalm 12.
Hinterher geht’s mir immer wie den Psalmisten. Zumindest für eine gewisse Zeit kann ich sagen: “Danke, jetzt geht’s mir schon wieder etwas grüner.”