Foto oben: Vor dem Besuch eines Rammsteinkonzerts in Gelsenkirchen.
In den vergangenen 18 Monaten war ich ungewöhnlich oft in Tyskland. Aus verschiedenen Gründen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Bundesländern. Traf Menschen, aß mit ihnen, hörte zu. Reiste Regionalbahn und ICE, Fernbus und Nahverkehr. War manchmal allein, manchmal im Gespräch mit Wenigen oder fand mich in riesigen Menschenansammlungen wieder. Und irgendwie macht man automatisch ja immer das, was man unterbewusst sowieso ständig tut. Bei mir ist das: Beobachten und wahrnehmen. Meist halte ich mich aus allem heraus, was um mich herum passiert. Mische mich nicht ein. Doch ich passe genau auf und halte fest.
Da waren etwa die beiden Herren in der riesigen Konzertarena. Ganz in meiner Nähe. Der eine machte keinen Hehl daraus, wie sehr es ihn nervte, dass hier so viele öffentlich rauchten. Unrecht hatte er ja nicht, ich war selbst überrascht, welch enorme Menschenmassen sich permanent mit Inhalieren beschäftigten. Sogar Tabak, vor allem aber Vapers mit ihren chemisch-süßen Gerüchen aus riesigen Dampflokfahnen. Herr 1 wurde es dann zu viel. Genervt fuhr er Herr 2 in der Reihe vor ihm an, das Rauchen sein zu lassen. Leider war das etwas unglücklich, denn Herr 2 hatte weder geraucht noch gevapt. Deswegen reagierte der auch ziemlich angepisst. Was Herrn 1 aber noch mehr aufbrachte. Was Herrn 2 erst recht nervte. Sticheleien, Beleidigungen, Unverschämtheiten von beiden Seiten, wie Ping-Pong. Das Schauspiel wurde zu einem langen Theaterakt. Hätte ich keine Sorge vor einer potentiellen Schlägerei gehabt, so wäre das unreife Verhalten der beiden fast schon amüsant gewesen.
Generell habe ich das Gefühl, das Deutschland gerade eher kollektiv genervt ist. So viele sind so extrem reizbar. Oder hatte ich einfach immer nur das Pech, zwischen Streithähnen und Provokateuren zu sitzen, in Bussen oder Zügen, wo Mitmenschen sich lieber gegenseitig anrotzen, statt respektvoll zu reden? Die kleinste Kritik und man geht an die Decke. Auch auf der Straße. Deutsche Autobahnen sind ja eigentlich schon längst kein Fahrvergnügen mehr, doch nicht alle scheinen das einzusehen. Deshalb versucht man wohl, sich den Fahrspaß mit Lichthupe und Verdruss zu erzwingen. Moderne Kühlergrills scheinen heute nicht nur auszusehen wie Darth-Vader-Masken, der dahinter versteckte Wurm am Steuer scheint wie der Film-Vader massiv verletzt und verkümmert zu sein. Und sich deshalb entsprechend aggressiv zu verhalten.
Jedenfalls war es eine lehrreiche Zeit. Buchstäblich. Ich bin viel und oft belehrt worden, meist ungebeten zwar, aber immerhin. Als nicht-in-Deutschland-Sesshafter, wurde ich wohl als stets lernwilliger Schüler gesehen, dem das Land erklärt gehört. Besonders dann, wenn ich mich nicht-deutsch verhalte und Dinge tue, die anderswo völlig normal sind. Nur hier nicht. Bei rot über die Ampel gehen zum Beispiel. Jetzt habe ich gelernt, dass viele Deutsche sich ernsthaft als große Vorbilder betrachten. Die rote Fußgängerampel ist wirklich eine Art Nationalstolz, dessen Kulturgut es zu schützen gilt. Also habe auch ich angefangen, brav stehen zu bleiben, trotz allseits freier Straße. Nicht wegen der vielen Kinder, die mich ja aus entlegenen Fenstern heimlich beobachteten und die bis jetzt sonst ja alle überfahren worden wären. Nein. Sondern um den Glauben an die deutsche Vorbildhaftigkeit nicht öffentlich in Frage zu stellen. Diese Oase deutscher Zufriedenheit möchte ich pflegen und ihr respektvoll begegnen.
Übrigens wurde ich auch nicht im Unklaren gelassen, wer an der ganzen deutschen Misere, oder wie man das nun nennen möchte, die Schuld trägt. Einige Gruppen und ein ganz bestimmter Titel scheinen die komplette deutsche Zufriedenheit auf dem Gewissen zu haben, denn sie wurden immer wieder erwähnt und wortreich erläutert. Ich kann aber nicht sagen, wer von denen nun etwas mehr und wer etwas weniger Schuld trägt, deshalb liste ich sie in alphabetischer Reihenfolge. Die Arbeitgeber, die Ausländer, die Drogenabhängigen und die Radfahrer. Und dann ein Amt, das diktatorähnliche Zerstörungskraft zu haben scheint: das des deutschen Gesundheitsministers. Egal, wer es bekleidet, hier scheint die Wurzel allen Übels zu liegen, der Antideutsche, der alles kaputt macht. Dieses Gefühl habe ich mit nach Hause genommen, wohlwissend, das dies nur ein subjektiver Gefühlsquerschnitt war. In anderen Bundesländern hätte man mir sicher noch mehr gefährliche Racker und Rüpel erklärt.
Es ist schön, nach Deutschland zurückzukommen. Als Gast. Und ich habe nun mal die Gabe, zuhören zu können. Interessiert zuhören zu können. Nachzufragen, verstehen zu wollen. Nicht jeden Satz mit “Sowas ist mir auch mal passiert!” abbrechen zu müssen, um dann mit der eigenen Geschichte fortzufahren. Auch merkwürdige Aussagen erstmal stehen lassen zu können. Mir kommt es vor, als sei diese Eigenschaft eher selten in Deutschland. Als wisse kaum noch jemand, wie es sich anfühlt, wenn jemand wirklich zuhört. Vielleicht ist das der wahre Frust. Viele fühlen sich nur einsam und unverstanden und versuchen, das zu kompensieren. Mehr zuzuhören, das wäre wirklich vorbildlich. Vor allem, wenn alle mitmachen.