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Brückenpfeiler Nr. 3: Im weltweiten Körper Christi ruhend
H2O ist nach wie vor eine sehr kleine Gemeinde. Eine Brücke zu bauen, die sich über einen so großen Abgrund erstreckt, ist ohne Hilfe unmöglich. Sich sowohl in der Bibel als auch in der heutigen Kultur zu verankern, wird uns spannen wie eine Streckbank. Wir brauchen eine Stütze in der Mitte, etwas, wo man Gewicht ablegen kann. Für uns ist diese Stütze die Gemeinde generell, der Leib Christi, die weltweite Kirche, wie auch immer man es benennen mag. Wir sehen uns verbunden mit unseren Glaubensgeschwistern der Gegenwart und der Vergangenheit.
Die Tatsache, dass die Kirche nie perfekt war, sondern im Gegenteil stets mit Flecken und Fehlern behaftet war und ist, macht es für uns eigentlich nur noch interessanter. Denn wir erleben uns selbst auch nicht als perfekt und damit passen wir doch ganz gut zusammen. Außerdem können wir von allen Fehlern der Vergangenheit am meisten lernen – vorausgesetzt, wir bleiben demütig genug, sich der eigenen blinden Flecke ebenso bewusst zu sein. Folgende Generationen werden über uns vermutlich auch den Kopf schütteln. In der weltweiten Kirche finden wir unglaubliche Resourcen, inspirierende Vorbilder, wohtuende Beispiele, Mitleidende mit ähnlichen Problemen wie wir. Die Gemeinschaft mit anderen Nachfolgern, sowohl heutigen als auch aus vergangenen Zeiten, tut uns gut.
Nachdem wir in Schweden ankamen gehörte es für uns selbstverständlich zu den ersten Dingen, das Netzwerk der bestehenden Gemeinden und Denominationen kennenzulernen. Durch die vielen Treffen mit lokalen Leitern, der Teilnahme an Gemeindegründungskursen, Gottesdiensten und vieles mehr lernten wir unglaublich viel über Land und Leute, Geschichte, Kultur, Gemeinde. Wir begegneten zahllosen, wunderbaren Christen und ich weiß wirklich nicht wo wir heute wären ohne deren enorme Aufmunterung.
Einer dieser Freunde aus unserer Partnergemeinde “Saronkyrkan” in Göteborg lud mich eines Tages ein, an einer Schweigefreizeit auf einem alten, schwedischen Schloss teilzunehmen. Es stellte sich heraus, dass ich hier in einer bemerkenswert ungewöhnlichen, klösterlichen Gemeinschaft gelandet war. Diese Kommunität gehörte offiziell den Pfingstlern, doch es gab deutliche Verbindungen zur koptischen Kirche. Diese wohl höchst ungewöhnliche Kombination formte eine der außergewöhnlichsten geistlichen Erfahrungen für mich. Wie ich schon erwähnte, wuchs ich in keiner Kirchenkultur auf, und wenn ich als Heranwachsender zur Kirche gehen musste, gab es immer ewig langweilige Liturgien zu ertragen. Als ich später selbst Christ wurde, nahm ich mir vor, nie und nimmer meine Mitmenschen mit end- und sinnlosen Liturgien zu quälen. Trotz meines Glaubens sah ich solche als reine Zeitverschwendung an.
Aber während dieser Schweigefreizeit auf Bjärka-Säby, jenem schwedischen Schloss, wurde ich plötzlich ein stiller Teil einer lebendigen Gemeinschaft aus jungen und alten Leuten, die Gott jeden Tag sehr glaubhaft “in Wahrheit und im Geist” anbetete – und zwar fünf Mal täglich mit Liturgien! Ich erlebte die Gegenwart des Heiligen Geistes, und auf einmal begannen alle diese alten Gebete Sinn zu ergeben. Ich erfuhr, dass man hier der schwedischen Version des Stundengebets folgte, und plötzlich sah ich den Wert darin, Psalme, Gebete oder Bibelverse wiederholend zu beten.
Ich werde wohl nie ein Mönch oder Liturgiefanatiker werden, doch eine klösterliche Schweigefreizeit jährlich ist ein wunderbares Kontrasprogramm. Obendrein habe ich das alte Hilfsmittel des Stundengebets teilweise in meinen eigenen Alltag eingebaut. Ab und zu drücke ich den Pausenknopf im Leben, öffne ein App im Handy und bete das aktuelle Stundengebet. Vor allem ein Teil in der “Komplet”, dem abschließenden Nachtgebet, wurde mir eine wohltuende Gewohnheit. Vor dem Einschlafen bete ich mit geschlossenen Augen:
Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben dein Heil gesehen. (Lk 2,29f)
Eine wunderbare Erinnerung, das dieser Tag von Gott kam und man ihn in seine Hände zurückgeben darf, um dann in Frieden einzuschlafen. Manchmal beten wir ein Stundengebet auch bei H2O, weil es ein Gefühl der Verbundenheit mit Gott und allen anderen Geschwistern gibt, die mit uns durch viele Jahre ähnliche Gebete benutzt haben, um denselben Herrn anzubeten.
Wir sehen auch einen großen Nutzen darin, geistliche Vorbilder, Mentoren oder Berater in der weltweiten Gemeinde zu haben. Als Leiter eines experimentellen, pioniermäßigem Gemeindeversuchslabors ist es elementar wichtig für mich, andere Menschen in ähnlichen Situationen zu finden. Wie gesagt, wir versuchen die alte Bibel auf einen ganz neuen Kontext anzuwenden, und oft sehen wir in unseren historischen Vorbildern wegbereitende Vorreiter ihrer Zeit. Sie haben hart daran gearbeitet, ihre Umwelt genug zu verstehen um die alten biblischen Wahrheiten darauf beziehen zu können und das Himmelreich in die Welt zu tragen. Wir müssen solche Vorbilder finden und sie zu unseren Mentoren machen, von ihren Schwierigkeiten, Handlungen, Entscheidungen lernen. Wir müssen über sie und von ihnen lesen, ihrer Lebensreise folgen wie einer ihrer Jünger. Wenn man für seine Gemeindegründung eine gute Theologie für diakonische Einsätze wie “Serve the City” sucht, mag Franz von Assisi ein guter Berater sein. Wer lernen will, wie man zeitgemäße Sprache benutzt, ohne die Bibel zu verässern, möchte C.H. Spurgeon genauer zuhören. Tausende von großartigen Vorbildern stehen uns zur Verfügung. “Leaders are Readers”, wie man im Englischen sagen kann, und: Nur wer suchet, der findet.
Dietrich Bonhoeffer, einer der großen deutschen Theologen des 20. Jahrhunderts, ist ein herausragendes und Mut machendes Beispiel für jemand, der in der Lage war, prophetisch in die Situation eines ganzen Landes zu sprechen. Als passionierter Theologe studierte er Gottes Wort täglich, Bonhoeffer war in der Tat in der Schrift verwurzelt. Aber er war auch in seiner Kultur gegründet, er beobachtete und analysierte genau, war stets informiert, was gerade vor sich ging. Obendrein war er sich der Rolle der Gemeinde in der Geschichte bewusst. Nicht zuletzt ließ er sich vom Heiligen Geist gebrauchen, was zum Beispiel in seiner Radioansprache vom 1. Februar 1933 deutlich wurde.
Nur zwei Tage, nachdem Hitler die Macht ergriffen hatte und kaum ein Deutscher eine Ahnung hatte, wohin das führen würde, sprach Bonhoeffer öffentlich vom veränderten Konzept des Wortes “Führer”. Er erklärte, dass wahre Führung immer von Gott komme als Quelle alles Guten. Wenn sich ein Führer nicht Gott unterstellt, setzt er sich selbst in eine autokratische Messiasrolle, losgelöst von Gott und damit zum Untergang verurteilt. Es ist nicht schwer, Bonhoeffers theologische Reflektion in der Thematik zu erkennen. Die Tatsache, dass seine Rede noch vor der Machtergreifung geschrieben wurde, beweist Bonhoeffers scharfe Beobachtung der Welt. Die Tatsache, dass jene Rede mittendrin abgebrochen wurde, beweist, dass sie gehört und wahrgenommen wurde. Die Tatsache, dass Bonhoeffer seinen immer wieder bewiesenen Mut zwölf Jahre später mit dem Leben bezahlen musste, lässt die Frage aufkommen: Wie weit ist unsere Gemeinde bereit, zu gehen? Sind wir wirklich bereit, diese Brücke aus dem Licht in die Dunkelheit zu bauen – und die Rechnungen zu bezahlen?
Manchmal werde ich gefragt, wie ich den Brückenbauprozess auswerte. Nun, an diesem Punkt hinkt das Brückenbeispiel. Wohl können wir alle Teile einer echten Brücke messen, wiegen und bewerten – doch wie misst man Reife, Liebe, biblischen Tiefgang, Relevanz? Welche Parameter sollen wir analysieren, welche Werte abgelesen, welche Detektoren verwendet werden? Vielleicht sollten wir die Anzahl der theologischen Fragen messen, die in unserer Gemeindearbeit im Laufe eines Jahres auftauchen? Oder die Zeit, die wir für theologische Reflektionen und Gebet aufbringen? Die Anzahl gemeindlicher Offenbarungen oder Aha-Erlebnisse, die uns tanzen lässt vor Freude, weil wir einem Geheimnis auf die Schliche gekommen sind? Die Zeit, die wir freiwillig in freudiger Anbetung verbringen? Den Maßstab, mit dem wir endlich die Breite, Länge, Höhe, Tiefe der Liebe Christi messen können?
Wenn ich so darüber nachdenke, dann würde ich zur Auswertung der drei Brückenpfeiler wohl am liebsten ein besonderes Bücherregal in der Gemeinde aufstellen. Ein Regal nur für alte, zerfledderte, ausrangierte Bibeln unserer Gemeindeleute. Und ab und zu würde ich eine dieser Bibeln in die Hände nehmen, vorsichtig durch ihre Seiten blättern und mir dabei vorstellen, wie der Herr den Besitzer dieses Buches geleitet hat. Ich könnte mir vorstellen, dass mich diese Bibel, das ganze Regal mit tiefer Freude füllen würde, weil ich wüsste, dass dies zu einer wirklich reifen Gemeinde gehört. Denn wie Spurgeon schon gesagt hat, “eine verschlissene Bibel gehört in der Regel einem grunderneuerten Menschen”.
Ende
© Marcus Fritsch. Aus Steigerwald, Daniel und Crull, Kelly (Hg.). Grow where you’re planted. Collected Stories of the Hallmarks of the Maturing Church. Portland: Christian Associates Press, 2013.
Das ganze Buch mit vielen weiteren Geschichten und Autoren kann man hier finden: