In den vergangenen 48 Monaten habe ich vermutlich mehr geweint und schlaflose Stunden gezählt als in allen 48 Jahren davor zusammen. Nicht wegen Depression. Depressionen berauben der Seele ihre Gefühle, doch ich bin emotional meistens äußerst engagiert. Es gibt konkrete Gründe zur Trauer. Trost finde ich leider selten in Gottesdiensten, sondern eigentlich ausschließlich im Buch der Bücher – überraschenderweise vor allem im Alten Testament. In den kommenden Blogposts lade ich auf eine kleine Reise durch meine persönliche Bibel ein, um zu zeigen, unter welchen Steinen ich Saat zur Hoffnung finde, die man züchten kann.
Ein Treck zum Trost: Etappe 1
“Ich wünschte, mein Kopf wäre ein Gewässer und meine Augen Tränenquellen, dann könnte ich Tag und Nacht weinen!”
Jeremia Ben Hilkija
Vor Jahren sollte ich einen Vortrag auf einer Konferenz halten. Aus irgendeinem Grund kam es so, dass ich über Jeremia sprach. Das untenstehende Video fertigte ich damals zu diesem Zweck an. Als ich fertig war, betitelte der nachfolgende Sprecher meine Rede mit “Wow, that was gloomy!” (= “Mann, war das düster!”). Gewiss, Jeremia hatte so seine Probleme. Ein paar davon werden wir noch kennenlernen. Friede, Freude, Eierkuchen war ihm fremd. Doch er hatte auch einen wunderbaren Auftrag: Hoffnung proklamieren. Den Horizont eines ganzen Volkes zu erweitern. Zur Umkehr auffordern – nicht nur einzelne Individien, sondern die ganze Gesellschaft. Veränderungen animieren. Wie alle Propheten der Bibel sollte er Bilder einer besseren Wirklichkeit malen, die Phantasie der Menschen anregen, sich etwas viel, viel größeres und wichtigeres vorzustellen als die lässliche Box des eigenen kleinen Alltags.
“Es ist die Aufgabe prophetischer Vorstellungskraft, jenen tiefen Hoffnungen und Sehnsüchten öffentlichen Ausdruck zu verleihen, die so lange verschüttet waren, dass wir sie völlig vergessen hatten.”
Walter Brueggemann
Ganze vierzig Jahre hat Old Jerry das getan. Doch niemand wollte ihm zuhören. Er wollte den Weg zum Leben zeigen, stattdessen stürzte sich sein Volk mit Inbrunst die Klippen hinab.
Das ist frustrierend anzusehen. “Gloomy” meinetwegen. Vorher wollte niemand hören, hinterher ist niemand mehr zu hören. Deshalb findet der düstere Frust eines Propheten nirgendwo seinen Platz. Auch nicht in Freikirchen. Propheten sind und bleiben einsame Seelen. Man achte nur mal bewusst darauf, wie oft wir sonntags laut von Enttäuschung, Frust und Schmerz singen, wie oft wir auf Facebook bekennen, dass uns die Geduld gerissen ist oder wir zu viel Alkohol getrunken haben, wie oft wir den Herrn im Lobpreis regelrecht anschreien, jetzt doch endlich mal einzugreifen, weil wir es sonst nicht mehr aushalten werden. Insbesondere junge, charismatische, angelsächsisch geprägte Gemeinden sind gerne voll das Happening mit fetziger Musik, coolen Boys, schicken Chicks und teuren Schuhen. Was generell sehr gut ist, schließlich ist das Himmelreich wie eine Party. Doch alles hat seine Zeit. Wenn immer nur und jedesmal Partystimmung ist, bleibt so mancher fern, weil ständig Fete wohl in einen Nachtclub passt, als Dauermodus einer Gemeinde aber überspannt und bizarr wirkt, abgekoppelt von der erlebten eigenen Wirklichkeit. Der Himmel mag ein Fest sein, das Leben ist es nicht (immer). Schließlich gibt es Gründe, warum so viele Drogen nehmen.
Deshalb ist die erste und schönste Hoffnung, die ich ganz besonders im Alten Testament finde, das Sich-Verstanden-Fühlen: Jeremia, der rastlose Prophet, der manchmal am liebsten Tag und Nacht nur heulen wollte. Der manchmal an Gott und seinem Glauben verzweifelte. Ihm ging es hundertpro tausendmal dreckiger als mir, dem armen Jerry, kein Zweifel und kein Beschönigen. Doch einer der Hauptzwecke der Heiligen Schrift ist es, uns glaubhaft zu zeigen, dass Gott uns versteht. Wir sind nicht allein. Das lässt mich weiterlesen. Und siehe da, nur wenige Schritte weiter fühle ich es schon wieder, das Verstanden-sein.