Egal, wie die US-Wahl heute ausgehen mag, es wird nicht besser werden im Krisenland der nicht mehr unbegrenzten Möglichkeiten. Viel zu sehr sind die Seiten gegeneinander aufgehetzt. Mein persönliches Problem daran ist aber ein ganz anderes.
“Ansichten dürfen nie wichtiger sein als Einsichten” sagt der schwedische Ideenhistoriker Sven-Eric Liedman und kreiert ein neues Wort in seiner Landessprache: “kunskapsförakt” – Wissensverachtung, die störrische Überzeugung von der Vorzüglichkeit seiner eigenen Rückschlüsse. Man lasse es sich mal auf der Zunge zergehen, denn es beschreibt sehr viel sehr gut von dem, was heute so alles zu beobachten ist. Gewiss ist es einfach, mit dem Finger nach Amerika zu zeigen. Doch auch diesseits des Atlantiks bleiben viele Einsichten aus, weil die Ansichten alles übertönen.
“Wo ist Weisheit?” frage ich genauso verzweifelt wie Jeremia. Immer wieder komme ich zu dieser Frage zurück. Der riesige Wissensüberfluss bei enormem Weisheitsnotstand ist an sich schon eine gewaltige Geißel unserer Zeit. Wirklich gepeinigt wird meine Seele aber von anderen Stichen: Die vermeintlichen Aushängeschilder des Leibes Christi 21, dessen Außendienstler ich bin, weswegen ich die Reaktionen unserer vermeintlichen “Neukunden” aus erster Hand und schonungslos an den Kopf geworfen bekomme: Pädophilie, Regenwaldbrände, Rechtsextremismus, Klimaverleugung, Trumpunterstützung, Scheinheiligkeit und so manches mehr. Ausgerechnet jene, die an Früchten der Liebe erkannt werden sollten, scheinen generell eher lieblos zu sein und polarisieren fleißig mit.
Wer den obigen Ausschnitt der vergangenen heute-Show ansieht, mag empört reagieren, es für unverschämt, respekt- und humorlos halten. Tatsache ist: Ich kann über das meiste zumindest schmunzeln. Ich kenne es genau, das ist mein Arbeitsplatz humorvoll dargestellt. Es drückt ziemlich genau das Bild aus, dass mir seit vielen Jahren von “der Welt” über “die Kirche” widergespiegelt wird. Dass Kirche nicht gleich Kirche ist, es viele Unterschiede und Ausnahmen gibt, spielt keine Rolle. Von Orthodoxen bis Pfingstlern beten wir schließlich alle denselben Gott an, und jeder behauptet, die richtige Theologie zu haben. Folgerichtig landen wir alle im selben Eimer. Fair enough.
Bislang gelang es mir immer noch irgendwie, Vorurteile zu umgehen. Man muss Menschen mit Unerwartetem überraschen, was eine gewisse Neugierde weckte. Michael Frost nennt das “ein fragwürdiges Leben leben” – eins, das ganz anders ist, würdig, Interesse und Fragen zu wecken. Bislang war “evangelikal” auch noch ein unbeflecktes, weil meist unbekanntes Wort. Doch das ist nun vorbei. Es wird immer schwerer für mich, überzeugend zu sein, ohne in einer verrückten Schublade zu landen*. Nicht, weil “die Welt” so skeptisch ist, das war sie schon immer. Sondern weil mir “die Kirche” immer öfter gefühlt in den Rücken fällt und ihre eigene Glaubwürdigkeit demontiert. Ernsthaft, manchmal fühle ich mich, als sähe mich die Welt als Rüstungsverkäufer im Priestergewand, der nur darauf wartet, den letzten Rest Natur auch noch abfackeln zu können.
Die Welt wird durcheinander geworfen. Daran können wir vielleicht nichts ändern. Auch die heutige Wahl wird das nicht tun. Das ist ok für mich, schließlich ist das, wie gesagt, mein Arbeitsplatz, und diese Herausforderung nehme ich an. Mein Dilemma ist, dass ausgerechnet jene, die fest auf Fels gebaut sein sollen, sich wie trockener Sand aufwirbeln lassen. Dass die Besserwisserei aufmarschiert und die Weisheit zertrampelt, weil das Salz nicht mehr salzt und das Licht unter dem Scheffel steht und paradoxerweise viele von denen paradieren, die vom “Herr! Herr! In deinem Namen tun wir das!” überzeugt sind.
Bleibt abzuwarten, wann sie “Kreuzige ihn!” oder ähnliches rufen. Schließlich muss das, was am Leiden Christi fehlt, noch vollendet werden. Aggressionslose Nächstenliebe ist vielleicht die Form von Weisheit, mit der wir unsere Welt noch am meisten überraschen können, weil sie am besten vermag, ein wenig göttliche Ordnung ins Durcheinander zu bringen. Jesus hat es vorgemacht.
* dabei geht es darum, Glaubwürdigkeit zu erreichen. Es geht weniger darum, Lächerlichkeiten zu vermeiden. Die Lächerlichkeit (oder das Ärgernis) des Kreuzes können wir nicht ändern oder wegnehmen. Wir müssen aber aufpassen, unsere eigenen Lächerlichkeiten nicht mit der des Kreuzes zu verwechseln oder gar zu rechtfertigen. Damit nehmen wir uns selbst den Wind aus den Segeln.
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