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Bevor nächste Woche meine jährlichen Vorlesungen im Fach Missionswissenschaft beginnen, muss ich diese Woche nicht nur meine Lektionen und Präsentationen auf den neuesten Stand bringen. Ich muss auch meine Gedanken zu den Ereignissen vergangene Woche sortieren, und mein Blog ist ein geeigneter Platz dazu.

Donnerstags sind derzeit höchstens vier Menschen in Fleisch und Blut im örtlichen ALT-Studienzentrum* anwesend. Während der Mittagspause gibt es dennoch regelmäßig lebhafte Gespräche über die aktuellen Streitthemen wie die Pandemie oder den Sturm auf das US-Kapitol, und wie das alles zu deuten sei. Ich finde es angenehm, mit echten Menschen reden zu können, hoffentlich mit solchen, die ganz anderer Ansicht sind. Paradoxerweise halten gerade sie mir oft einen Spiegel vor.

Wenig Demut, viel Überzeugung

Zum Beispiel merke ich, dass wir Christen – und ich muss mich hier selber einschließen – eine Neigung dazu haben, mit wenig Demut und viel Überzeugung mächtige Worte zu verwenden, die wir aber eigentlich kaum verstehen. “Antichrist” oder “Christenverfolgung” zum Beispiel, sie haben mit all ihren Synonymen 2020 eine richtige Renaissance erlebt. Ein Pastor las mir am erwähnten Mittagstisch stolz seinen Brief vor, in dem er seine Gemeinde zur mutigen Aufsässigkeit gegen die “Verfolgung” durch die Coronabeschränkungen der Regierung aufrief. Man mag ihm gerne verzeihen wollen, dass er in jungen Jahren vielleicht krank war, als im Theologiestudium behandelt wurde, dass der Römerbrief wahrscheinlich im Jahr 57 entstanden ist, also während der Herrschaft eines berühmt-berüchtigten Kaisers. Tatsache ist aber, dass weder der Pastor, noch seine Gemeinde, noch irgendjemand von uns Christen des Westens auch nur annähernd etwas ähnliches wie eine Verfolgung erlebt haben wie unsere damaligen Geschwister 54-68 n.Chr., die in Römer 13 von Paulus zur mutigen Unterordnung unter ihre damalige Obrigkeit namens Nero aufgefordert wurden. Wenn jene Schwestern und Brüder, die sich daraufhin halbnackt, gewaltlos und singend in die Arenen des Todes führen ließen, unsere heutigen Argumentationen hörten, würden sie uns wahrscheinlich nur mitleidig schweigend ansehen.

Zensur

“Zensur” ist ein weiteres Wort mit derzeit steiler Karriere. Vielleicht nicht ganz so tödlich, aber dennoch heftig. Doch auch hier beschleicht mich die Frage, wie viele, die heute mit Nachdruck von “Zensur” sprechen, je echte Zensur erlebt haben – vergleichbar also mit echter Verfolgung. Zensur geht ebenfalls auf die Römer zurück, die das Wort ja überhaupt erfunden haben und mit ihm den Beruf des Censors. Solange man also nicht von Selbstzensur oder Schulnoten spricht ist mit Zensur über Jahrtausende immer nur eins gemeint gewesen: Die ausdrückliche Begrenzung der Informations-, Meinungs- und Redefreiheit durch den Staat und seine Behörden. Es wäre eindeutig Zensur, wenn ein Staatspräsident das Twitterkonto einer Privatperson oder eines privaten Unternehmens sperren ließe, hingegen ist es keine Zensur, wenn eine Privatperson oder ein privates Unternehmen einen Staatspräsident blockt oder sperrt. Twitter schränkt nämlich in keiner Weise die rechtlich verankerte Rede- und Informationsfreiheit ein. Der Präsident könnte von morgens bis abends Reden und Pressekonferenzen halten oder Interviews geben. Die Sperrung – auch wenn selbst die deutsche Kanzlerin das als “problematisch” sieht – ist keine Zensur, weil jedes Unternehmen die Freiheit und das Recht hat, eigene Regeln aufzustellen und einzuhalten, solange sie dem geltenden Gesetz entsprechen. Nichts anderes hat Twitter getan. Wie man Twitters Entscheidungen bewertet ist ein anderes Thema, Zensur ist es aber nicht.

Die Macht sozialer Medien

Natürlich kann und muss man sich fragen, warum einige wenige private Unternehmen überhaupt so viel Macht haben, dass sie die Weltpolitik beeinflussen können. Aber auch darauf gibt es keine einfachen Antworten, auch wenn wir Christen nichts lieber haben als simple Erklärungen. Es geht schon damit los, dass die Geschichte, Kultur und Rechtslage in den Ländern, wo die meisten sozialen Medien beheimatet sind, völlig anders ist. (Aus diesem Grund kommen soziale Medien eher selten aus Europa.) Nun könnte man leicht Unternehmen wie Google oder Menschen wie Zuckerberg und Dorsey verteufeln, weil sie so unglaublich viel Macht besitzen, mehr als viele Politiker auf der Welt. Doch wenn man mit jemandem schimpfen will, gibt es nur einen Platz, wo das wirklich angemessen ist: Das Badezimmer. Wir sollten der Person im Spiegel ordentlich die Leviten lesen, und zwar nicht zu knapp. Denn hier ist der Mensch, der die Macht der sozialen Medien täglich füttert. Es ist außerdem der einzige Mensch, den du wirklich verändern kannst. Du solltest also besser bald anfangen, deine pädagogisch wertvolle Gardinenpredigt fürs Badezimmer vorzubereiten.

Predige!

Apropos Predigt: Vergiss nicht Lukas 22,24-27 zu erwähnen, eine der Kernaussagen Jesu zu Machtfragen. Ein Text, der völlig vergessen und kaum beleuchtet wurde, seit sich die Kirche mit den Erfindern des Censors verheiratet hat. Entsprechend ist es uns Christen seit knapp 1700 Jahren immer schwergefallen, Lukas 22,26 zu leben und sich jeder Macht abzusagen. Wir glauben, wir hätten ein Recht auf Kirche, und ja, das haben wir auch. Genauso wie Jesus, der Mächtigste von allen, ein Recht darauf hatte, nicht gekreuzigt zu werden. Weil wir aber gerne auf unser Recht pochen, hoffen wir auf die, die uns zu unserem Recht verhelfen und schimpfen über solche, die uns unser gutes Recht vergällen. Dabei vergessen wir gerne, wie Jesus, dem wir nachzufolgen behaupten, mit seinem Recht umgegangen ist: Er hat es buchstäblich an den Nagel gehängt. Ich finde, ein solche Passage gehört unbedingt in eine Predigt über Machtfragen.

Lass Dir auch noch ein paar praktische Beispiele einfallen, wie deine Zielgruppe im Spiegel das im Alltag ausleben kann.

Nun, wenn nächste Woche also der neue Kurs “Missionswissenschaft” beginnt, dann bestätigen die jüngsten Ereignisse viele meiner Gedanken, die ich im vergangenen Jahr schon herumtrug: Glaubwürdige Mission kann in Zukunft nur aus einer Position kirchlicher Machtlosigkeit geschehen. Im Gegensatz zur Missionsgeschichte, die oft genug Hand in Hand mit Imperialismus und militärischer Gewalt ging, werden wir in Zukunft unserer Privilegien entäußert werden müssen. Nur dann können wir wieder tun, was unser Herr tut und werden nicht mehr von dem abgelenkt, was wir alles selbst tun können.


* ALT = Akademie für Leitung und Theologie, ein Netzwerk aus sechs Studienzentren aufs Land verteilt, wo insgesamt rund 200 Studenten ausgebildet werden. Ich persönlich arbeite dort donnerstags, während des Kurses Missionswissenschaft auch mittwochs.

Author

marcusis@icloud.com

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