Meine Herkunftsfamilie war nicht sehr fromm. Zur Kirche ging’s nur zu besonderen Anlässen, das heißt selten. Weihnachten aber haben wir immer leidenschaftlich gefeiert. Großer Baum, toll geschmückt, super Geschenke. Ich sang und hörte gerne Weihnachtslieder, ohne sie zu verstehen. Viele Kindheitserinnerungen kreisen um Weihnachten. Alle Jahre wieder ein echtes Highlight. Himmlisch fast schon.
Später im Leben “traf” ich eben jenes Geburtstagskind: Jesus. Ich wurde Christ. Begann, alles besser zu verstehen. Mein neuer Glaube war ebenfalls leidenschaftlich. Auch daran habe ich viele gute Erinnerungen.
Allerdings muss ich heute zugeben, dass mein ganzer Glaube vom Prinzip meinen kindlichen Weihnachtserfahrungen verdächtig ähnlich war: Immer neue Geschenke entdecken. Immer auspacken, was mir eingepackt überreicht wurden. Nur ganzjährig eben. Jesus war der großzügige Schenker, ich sein Kind. Ich fühlte mich geachtet und gewürdigt. Das ist etwas, das jeder Seele guttut.
Ich las die Bibel und lernte mehr und mehr, doch der Part “Welt ging verloren” blieb noch sehr, sehr lange nur ein abstrakter, theoretischer Lehrsatz. Das war mir natürlich nicht bewusst – ich dachte eigentlich immer, ich hätte es jetzt voll begriffen. Mittlerweile hatte ich sogar Theologie studiert, doch im Grunde wusste ich immer noch nicht, was ich da sang. Es wurde erst zu einer relevanten Frage, als ich den Auftrag bekam, in einem anderen Land, in einer anderen Welt die “gute Nachricht zu verkündigen”, und ich dann jahrelang erleben musste, dass das, was ich als “Evangelium” ansah, hier gar keine Nachricht war. Geschweige denn eine gute.
Plötzlich musste ich mir eingestehen, dass mein so genanntes “Evangelium” nicht viel mehr als ein Plug-In, eine Goldkante in einem ohnehin schon sehr privilegierten Leben war. Wie Weihnachten eben: Einem Leben im Überfluss noch mehr Geschenke hinzufügen. Obendrein musste ich einsehen, dass “mein Evangelium” ein sehr persönliches war. Es ging eigentlich immer nur um die Vergebung persönlicher Sünden und die individuelle Seele, die wie Schiffbrüchige “gerettet” werden muss, ins Boot gezogen, das sich Gemeinde nennt. Da war kein Platz für eine ganze Welt, die verloren ging, denn das Meer an sich war ja noch in Ordnung.
Nun, das ändert sich gerade. Jedenfalls bei mir. Wenn ich beispielsweise heute in Jesaja 24 von der “beraubten” und “entweihten” Erde lese, dann bekommen diese Worte nicht nur eine ganz neue Anschaulichkeit, es ist vor allem plötzlich meine Welt, unsere Welt, der Platz, wo wir alle leben, der spürbar verloren geht. Oder ein anderes Beispiel: Hatte ich auch lange und immer wieder gerätselt, was das wohl für merkwürdige “Heuschrecken” in Offenbarung 9 sein mögen, so kann man sich heute leicht vorstellen, dass diese Viecher vielleicht z.B. im Iran ausgebrütet und mit ihren “rasselnden Flügeln”, wie Luther übersetzte, von Russland aus in die Ukraine ausschwärmen, um dort die Menschen zu quälen.
Doch vor allem bekommt das Evangelium ein Upgrade: Es wird wieder global: Welt geht verloren, Christ ward geboren. Der kleine Knirps im Futtertrog wird nicht so sehr meinen privaten Hintern in den Himmel bringen, er wird alle Macht im Himmel und auf der Erde empfangen. Er wird “die Hülle wegnehmen, mit der alle Völker verhüllt sind” (Jes 25,7) und ganze Drohnenschwärme nur mit einem Gedanken zum Absturz bringen.
“Christ ward geboren” zu singen ist mehr als nur ein stimmungsvolles Weihnachtslied: Es ist die Proklamation des Sieges über das globale Böse und eine Aufforderung zum Weiterwarten, weil das Warten auf den Messias sich auszahlen wird. Mehr, als alle Weihnachtsgeschenke zusammen.