(de/en [page 2]) Jahrelang trieb ich mich in diversen OP-Sälen herum, wohnte Gefälligkeiten wie Schädelöffnungen oder Amputationen bei. Obwohl ich wusste, wie die Luft eines OPs verteilt und gefiltert werden muss, um den Saal so sicher und keimfrei wie möglich zu halten, trugen alle im OP ein Ding im Gesicht, das uns alle gleichmachte: Einen Mundschutz. Niemand, vom Prof. Dr. bis zur Reinigungskraft, wäre je auf die Idee gekommen, diesen in Frage zu stellen, und das trotz ausgefeilter Filter und Belüftungstechnik, oder ihn als alleinige Lösung aller Keimprobleme im Krankenhaus zu sehen. Der Mundschutz war und ist ein obligatorischer, selbstverständlicher Zusatzschutz für die schwächste Person im Raum, die höchst verletzlich gerade ihr Innerstes auf dem Tisch entblößt: Der Patient. Somit wusste ich also schon ziemlich lange, dass durch das Tragen eines großen Stücks Zellstoff vor der Nase die Brille beschlägt, das Gesicht warm wird und man obendrein, sofern vorhanden, endlich auch mal in den Genuss seines eigenen Mundgeruchs kommt.
Allerdings gebe ich offen und ehrlich offen zu, viele Jahre später, als ich ein paar Jahre lang das Vorrecht hatte, beruflich viel reisen zu dürfen, irritiert darüber war, jene typische OP-Verhüllung zunehmend auch auf dem Flughafen anzutreffen, obwohl an Gate und Gepäckband ja doch eher selten operiert wird. Vornehmlich wählten asiatisch anmutenden Reisende, ihre Atemluft zu filtern. Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir damals vorstellen können, schon im Jahre 2020 mir wieder selbst so ein Ding vors Gesicht zu hängen – und zwar nicht im OP, sondern während einer höchst alltäglichen Aufgabe wie mein täglich Brot zu kaufen. So ändern sich die Zeiten. Heute lebt über 95% der Weltbevölkerung in einem Land, das das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes entweder vorschreibt, teilweise vorschreibt oder zumindest empfiehlt.
Es ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit die Gesichtsmaske ihren Siegeszug durch die Welt antrat. Das ging natürlich nicht ganz ohne Widerspruch und Diskussion, denn schon rein ästhetisch gesehen ist selbst eine Burka modischer. Lästig ist ein Mundschutz sowieso, und dass man aus dem Mund riecht wie eine Kuh sonst-wo-raus, will auch niemand öffentlich zugeben. Um also von solch verdrießlichen Argumenten abzulenken (die fachlichen sind seit Ignaz Semmelweis ohnehin unschlagbar) diskutiert man lieber die populistisch korrekten Argumente wie Freiheit, Selbstständigkeit, Wirtschaftlichkeit. Auch das ist alles irgendwie verständlich. Ich aber möchte gerne wissen, was das Thema Mundschutz für uns Christen und unser Auftreten in der postmodernen Welt bedeutet.
Da stelle ich erstmal fest, das dort, wo Christen das Tragen eines Mundschutzes befohlen wird, man brav der Obrigkeit folgt und gehorcht. Dort aber, wo es weder befohlen noch empfohlen ist, ergreift kaum ein Christ die Initiative, trotzdem eine Maske zu tragen. Im Gegenteil, wenn vor die Wahl gestellt, neigen Christen eher dazu, konservative Maskengegner als kreative Befürworter zu werden. Man sah es zum Beispiel an den pfingstlerischen Diskursen Brasiliens, man konnte die hitzigen Argumente evangelikaler US-Amerikaner hören, und ich beobachte es selbst in einem rot markierten Land der obigen Karte: Schweden. Schweden ist sicher kein christliches Land, dennoch sind die Maskengegner in erschreckender Überzahl, und die Christen des Landes sind ganz sicher nicht als Trendsetter bekannt, die hier mutig gegen den Strom schwimmen. Um es provokativ auszudrücken: Der Leib Christi lässt sich lieber stumpf durch jede Strömung treiben.
Dabei wäre es doch die eine, größte und mit Abstand wichtigste Hauptaufgabe jedes Christenmenschen, gegen den Strom zu schwimmen. Jener Mann, dem wir nachzufolgen behaupten, ist nie dadurch aufgefallen, durch Graumäusigkeit möglichst wenig aufzufallen. Seine Bergpredigt ist das Manifest liebevoller Aufmüpfigkeit, weil sein Reich die Rebellion der Liebe ist. Seit er den Heiligen Geist empfing, fiel er eigentlich permanent dadurch auf, die Lieblosigkeiten im Volk schonungslos bloßzustellen. Sehr zum Verdruss der Lieblosen, deren eigennütziger Machtmissbrauch reichlich gedemütigt wurde. Weil Gott aber Liebe ist, sollen sein Reich und seine Bürger sich konsequent für die Schwachen einsetzen. Im Alten Testament mögen es vor allem die Witwen und Waisen gewesen sein, das Neue Testament mag die Kranken und Ausgesetzten betonen, in unserer Stadt heute mögen es die Alten, Schwachen und Verletzbaren sein – wie zum Beispiel der Patient auf dem OP-Tisch. Alle müssen dazu beitragen, nicht nur einer oder zwei.
Wenn ein Mundschutz also mehr den anderen schützt als sich selbst, ist er heute das perfekte Zeichen gelebter Nächstenliebe: Ich denke an dich und kümmere mich um dich, dazu nehme ich gerne ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf. Obendrein nagt ein Mundschutz im Alltag an Stolz und Eitelkeit und wird ganz nebenbei zu einer willkommenen, kleinen, täglichen Übung in Demut. Und wer in Schweden lebt, hat sogar die Chance, wie Jesus voll gegen den Strom zu schwimmen und all die unmaskierten, verwunderten Blicke zu genießen, die einen für verrückt erklären. Denn nur verrückte Liebe schafft es, gegen den Strom zu schwimmen.