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Als Ergänzung zu meinem (interessanten?) Blogpost zur Entdeckung der Langsamkeit möchte ich Euch gerne zu einem kleinen Wettbewerb herausfordern. Das geht so: Ich werde Euch einen kurzen Text geben, und Ihr messt die Zeit, die Ihr zum Lesen braucht. Es wird ungefähr eine gute Buchseite sein. Ich habe zum Lesen dieser einen Seite mindestens eine halbe Stunde gebraucht. Weil ich nicht nur ein langsamer Leser bin, sondern, wie der Schwede sagen würde, ein “scheißelangsamer”.

So ungefähr ging es vor sich:

Es war sehr früh morgens. Wegen der langen Schlange an der Sicherheitskontrolle war ich einer der letzten, die das Flugzeug bestiegen hatten. Endlich saß ich an meinem Platz und schlug mein Buch auf, um weiterzulesen, begann eben jene Seite, die Ihr auch gleich bekommen werdet. Während sich meine Augen die ersten zwei Zeilen entlangschlängelten, fragte ich mich immer noch, warum die beiden Kinder hinter mir in der Securityschlange am Weinen waren, warum die beiden Mütter so besorgt aussahen. Naja, aber dafür sah das Kleinkind aus Reihe eins im Flieger, mit dem ich fast eine Minute beim Warten in Gang geshakert hatte, umso glücklicher aus. Großer Bruder und Mutter in Reihe eins waren auch gut drauf.

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Hach, der Platz neben mir bleibt doch nicht frei. Der junge Geschäftsmann war der Allerletzte beim Boarding und setzt sich neben mich. Er sieht aus, als flöge er täglich zu Geschäftsterminen. Warum fliegt er nicht Business Class?

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Alles ist saukalt im Flieger. Die Sitze, die Luft, die Wände. Ist das heute der erste Flug dieser Boeing 737? Ja, wahrscheinlich. Der ganze Flügel ist ja vereist.

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Es stinkt plötzlich nach Kerosin! Puh! Ach so, man hat wohl nach dem Betanken endlich das Heizgebläse angemacht.

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Plötzlich riechts nach Scheibenwaschanlage, gleichzeitig bombardiert rosa Schleim knallend mein Außenfenster. Immer wieder faszinierend. Womit verdienen Flugzeugenteiser eigentlich im Sommer ihr Geld?

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Ja, isses denn wahr?! Da popelt einer höchst genüsslich und ungeniert. Ob er seine Beute gleich auffrisst?

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Oh, wie das ruckelt, es geht los, wenn auch erstmal rückwärts. Mann, was die Turbine beim Anlassen qualmt. Echter Kaltstart. Sieht fast schon gefährlich aus.

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Sicherheitsballet. Die Stewardess ist blond, pummelig und kurz vor der Rente.

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Wir rollen. Oh, sie mal, die Boeing der Norwegian dort, wie sie gerade enteist wird. Die Beleuchtung des dahinwehenden rosa Dampfes ist dramatisch und filmreif. Wir nähern uns der Startbahn.

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Der routinierte Geschäftsmann neben mir fummelt sehr nervös ständig mit seinen Händen herum und knibbelt ohne Hinzusehen aggressiv an seinen Fingernägeln. Ist er doch nicht so routiniert, wie es schien? Oder hat er immer noch große Flugangst? Soll ich seine Hand halten? Soll ich es wagen? Wie würde er reagieren?

Nein, ich wage es nicht und lese stattdessen weiter.

Aaahh, diese Beschleunigung beim Start! Ich werde in den Sitz gepresst. Nichts ist schöner. Wir heben ab in die Dunkelheit.

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Es duftet nach Kaffee. Draußen erkennt man gefrorene Seen in der Tiefe. Ob ich gleich die Sonne aufgehen sehe?

Nach 15 Minuten bin ich auf Zeile 15 angekommen. So geht mir das ganz oft beim Lesen. Egal, ob ich im Flieger oder auf einem Küchenstuhl sitze. Besonders erwähnenswert war dieses Mal aber der Text, den ich während eben dieses Fluges gelesen habe. Der Inhalt. Und jetzt seid Ihr an der Reihe. Ich möchte, dass Du denselben Text auch liest. Wie Du siehst, bin ich langsam. Es besteht also kein Grund zur Unruhe, Du wirst mich locker schlagen.

Oder?!

Die Zeit gilt ab:

JETZT.

Ernst Pöppel, der kriegsbedingt recht spät eingeschult worden ist, kann sich gut an die Zeit erinnern, in der er noch unbelesen war. »Es war etwas vollkommen anderes, ich schweifte mit offenen Augen und Ohren durch die Natur. Die Sinneseindrücke und die Erzählungen der anderen waren ja die einzigen Möglichkeiten, etwas Neues zu erfahren«, erzählt er. Also hörte man seinen Mitmenschen genauer zu, sah sich die Dinge an oder nahm sie in die Hand, um mehr über die Welt zu erfahren. Und wie ist es als lesender Mensch? »Der genaue Blick in die Welt ist erheblich eingeschränkt worden«, sagt der Vielleser Pöppel, obwohl er in seinem Leben mittlerweile 100 000 Stunden mit Lesen verbracht hat und jeden Tag mindestens 100 Seiten liest. »Lesen ist bereichernd, aber trotzdem: Der ursprüngliche Blick ist verloren gegangen und wurde durch eine mittelbare Betrachtung ersetzt.« Das hat Auswirkungen, so der Hirnforscher: »Für die feinen Unterschiede, die sich mir optisch darbieten, bin ich weniger empfänglich als früher. Eigentlich gehe ich verblindet durch die Welt, abgestumpft für den Reichtum dessen, was sich in meinem weiteren Gesichtsfeld zeigt. Ich erkenne die Farben, doch ich erlebe sie nicht mehr.« Die Fokussierung auf das artifiziell Visuelle beim Lesen führt des Weiteren dazu, dass die anderen Sinnesorgane bzw. die Interpretation ihrer Informationen im Gehirn verkümmern. Das Visuelle ist dominant geworden, das Hören, Tasten, Riechen, Schmecken oder Sichbewegen zieht weniger Aufmerksamkeit auf sich. Wir stumpfen in jeder Hinsicht ab für das, was es in der Welt um uns herum gibt. Fairerweise muss man dazusagen, dass auch das Leben in Städten und in geschlossenen Räumen hineinspielt, ebenso wie der Umgang mit Technik, die uns die Welt vermittelt, wodurch es viel weniger notwendig ist, dass unsere Sinne geschärft bleiben. 

Natürlich sind Menschen, die nicht lesen können, in unserer Gesellschaft benachteiligt. Aber aus Sicht der Hirnforschung sieht es eben anders aus: Menschen, die ohne Lesenlernen aufwachsen, haben eine intensivere Wahrnehmung der Welt als Menschen, die ihre Zeit über Bücher gebeugt in Zimmern verbringen. Wobei es nicht nur um das Lesen von Büchern geht, sondern generell um die Vermittlung der Welt durch Hilfsmittel. 

Smartphone und Navi –Lesen 3.0 

Systematische Verblindung 
Ist das jetzt nur ein einzelnes Phänomen eines Professors oder eine breite Strömung? Um diese Frage zu beantworten, fuhren die Autoren gemeinsam mit der S-Bahn. Die S7, die vom Münchner Hauptbahnhof sowohl Pullach anfährt, wo Ernst Pöppel zu Hause ist, als auch Icking, das Heimatdorf von Beatrice Wagner, ist ein guter Ort, um das Verhalten von Menschen zu beobachten. Auch Schüler fahren mit dieser Linie, die S-Bahn-Abteile sind erfüllt von Lärm, Geschrei sowie von SMS-Piepsern und Klingeltönen. Viele Kinder und Jugendliche haben ihre Smartphones dabei, tippen herum oder telefonieren. So auch das 16-jährige Mädchen neben uns. Eine Nachricht nach der anderen macht sich mit einem Beep bemerkbar und wird beantwortet. Bis das Telefon klingelt. »Ja wo bist du denn jetzt?«, schallt es laut aus dem iPhone. »Hier im ersten Wagen, es ist voll«, so die lautstarke Antwort des Mädchens. »Aber wir sind doch auch hier«, tönt es blechern aus dem Lautsprecher. Das Mädchen schaut sich um, springt auf und läuft in das Nebenabteil. »Ich hab dich gar nicht gesehen«, ruft sie. Natürlich hat sie die Freundin nicht gesehen, wie könnte sie auch, sie war ja nur mit ihrem Smartphone beschäftigt. 

Die beiden Autoren, die sich gerade über den Sinn und Unsinn des Lesens unterhalten haben, müssen grinsen. Volltreffer! Genau das meinten wir. Vergleichbares hätte auch dem Touristen passieren können, der einen Reiseführer über die Schönheit des Isartals liest, anstatt sich selbst umzuschauen. Man geht verblindet durch die Welt und verlässt sich auf die mittelbare Betrachtung durch ein Hilfsmittel. Beim Lesen eines Buches wird beschrieben, was in der Welt passiert, so muss man es nicht mehr selbst erleben. Beim Bedienen eines Smartphones ist man von der Aufgabe entbunden, sich selbst umzuschauen. Die Hilfsmittel übernehmen das, was eigentlich Augen, Ohren, Nase und die anderen Sinne leisten sollten.

(Aus:
Ernst Pöppel und Beatrice Wagner: dummheit. warum wir heute die einfachsten dinge nicht mehr wissen. München: Riemann Verlag, 2013.)

 Und? Wie lange hast Du gebraucht?!

Author

marcusis@icloud.com

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